Ein Bild des Scheiterns: Am Dienstag erspähte das Schweizer Fernsehen die Schweizer Staatssekretäre Mario Gattiker (62) und Roberto Balzaretti (53) vor dem Gebäude des Europäischen Auswärtigen Dienstes in Brüssel.
Die beiden tippten nervös auf ihren Handys herum, zupften am Hemdkragen und waren alles andere als erfreut, als der SRF-Journalist wissen wollte, was denn passiert sei: «No comment» – mehr hatten die Chefbeamten nicht zu sagen.
Kein Wunder, denn seit diesem Tag gilt das Rahmenabkommen mit der EU – zumindest vorerst – als gescheitert. Da passt es nur zu gut, dass Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (63) Bundespräsident Alain Berset (46, SP) am Freitag brüskierte: Ein Gespräch war zwar anberaumt, wurde aber kurzfristig wieder abgesagt.
Weshalb war auch Mario Gattiker dort?
Dass Roberto Balzaretti als Chefunterhändler der Schweiz in Brüssel weilte, ist eine Selbstverständlichkeit. Nur: Weshalb war auch Mario Gattiker dort, der Chef des Staatssekretariats für Migration? Die Anwesenheit des obersten Migrationsbeamten in Brüssel – ausgerechnet am Tag, als das Rahmenabkommen scheitert – wirft ein neues Licht auf die Verhandlungen.
Die gängige Erzählung lautet: Der Streit um die flankierenden Massnahmen verhindert eine Annäherung zwischen der EU und der Schweiz. Brüssel fordert eine Änderung der Acht-Tage-Regel, die bislang vorschreibt, dass ausländische Handwerksbetriebe acht Tage warten müssen, ehe sie einen Auftrag in der Schweiz ausführen. Die Gewerkschaften sträuben sich erbittert gegen jede Anpassung dieser Regel – ohne ihre Unterstützung aber hätte das Rahmenabkommen bei einer Volksabstimmung keine Chance. Dies sei auch der Grund dafür, dass der Schweizer Chefunterhändler Balzaretti seinen Verhandlungspartnern in Brüssel kein Entgegenkommen signalisieren konnte.
Die Story von der Acht-Tage-Regel ist höchstens die halbe Wahrheit. Einen nicht weniger explosiven Streitpunkt bildet die sogenannte Unionsbürgerrichtlinie. In einem E-Mail aus der EU-Kommission, das SonntagsBlick vorliegt, steht wörtlich: «Die wichtigsten ausstehenden Fragen sind die flankierenden Massnahmen und die Rechte von Unionsbürgern.»
Die Einführung der Unionsbürgerschaft würde den Familiennachzug erleichtern
Brüssel fordert unter anderem, dass EU-Bürger nach fünf Jahren Aufenthalt in der Schweiz Sozialhilfe beziehen dürfen und deshalb keine Ausweisung befürchten müssen. Ein mit dem Dossier Vertrauter zu SonntagsBlick: «Für die EU ist es zentral, dass EU-Bürger, die in die Sozialwerke eines europäischen Staates einbezahlt haben, im Bedarfsfall von diesen Sozialwerken profitieren können.»
Heute können EU-Bürger den Aufenthaltsstatus in der Schweiz verlieren, sobald sie auf Sozialhilfe angewiesen sind. Laut Auskunft des Staatssekretariats für Migration geschieht dies nur selten. «Es handelt sich um Einzelfälle», schreibt die Behörde. Mit einer Übernahme der Unionsbürgerrichtline wären solche Ausweisungen künftig gar nicht mehr möglich, sobald der EU-Bürger fünf Jahre lang hier gelebt und gearbeitet hat. Weil mit Einführung der Unionsbürgerschaft in der Schweiz auch der Familiennachzug erleichtert würde, wäre in jedem Fall mit Mehrkosten zu rechnen. Beim Bund wagt allerdings niemand eine Schätzung über die Höhe der zu erwartenden Mehrausgaben.
Aus Brüssel ist zu hören, die Schweiz dürfe nicht erwarten, dass man in dieser Frage zu grösseren Kompromissen bereit sei als 2016 gegenüber Grossbritannien. Im Vorfeld der Brexit-Abstimmung im Vereinigten Königreich forderte der damalige Premierminister David Cameron (52) verzweifelt Zugeständnisse – und erhielt sie auch. Bei einem starken Anstieg der Zuwanderung hätte London Sozialleistungen an EU-Bürger befristet kürzen können. Obwohl die Briten davon schliesslich nichts wissen wollten und sich für den Austritt entschieden, hat die EU bei diesem Thema also offenbar ein wenig Spielraum.
SP-Nationalrat Corrado Pardini kritisiert Ignazio Cassis
Zwar spricht hierzulande kaum jemand über die Unionsbürgerrichtlinie, doch sie entspricht einer alten Forderung der EU an die Schweiz: Bereits 2011 forderte Brüssel ein erstes Mal deren Übernahme. Bern machte damals klar, dies komme nicht in Frage. Basta.
Warum leben die Schweizer dennoch in dem Glauben, das Rahmenabkommen hänge allein von den flankierenden Massnahmen ab? Weshalb wurde nie öffentlich über diese Hürde bei den Verhandlungen für ein Rahmenabkommen gesprochen?
SP-Nationalrat und Unia-Gewerkschafter Corrado Pardini (53, BE) kritisiert Ignazio Cassis (57, FDP) in diesem Punkt mit voller Härte. Der Aussenminister habe im Sommer «wiederholt seine Nebelpetarden gezündet» und die roten Linien des Bundesrats verletzt, worauf die Schweiz Monate damit zugebracht habe, den Lohnschutz zu diskutieren. «Das ist von einem Bundesrat schlicht inakzeptabel», so der Parlamentarier.
Pardini erwartet nun vom Bundesrat, «dass er Volk und Parlament endlich reinen Wein einschenkt und darlegt, was die Verhandlungsposition der EU wirklich ist, ohne Ablenkungsmanöver und Halbwahrheiten». Dann sei er zuversichtlich, dass die Beziehungen zwischen Bern und Brüssel gefestigt werden können: «Daran führt kein Weg vorbei, sie sind für unseren Wohlstand entscheidend.»
Laut Jean-Marc Crevoisier, Informationschef im Aussendepartement, habe der Bundesrat stets betont, er wolle die Unionsbürgerrichtlinie nicht übernehmen.
Oberflächlich betrachtet ist das die Wahrheit. Genau genommen hat der Bundesrat jedoch nie erwähnt, dass die EU bei den Verhandlungen für ein Rahmenabkommen auf einer Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie besteht.
Offenbar war es bis zuletzt die Hoffnung der Schweizer Verhandlungsführer, dass die EU das Thema doch noch fallen lässt.
Aus Angst vor dem Tod begeht der Bundesrat Selbstmord
Der Gedanke einer gemeinsamen Unionsbürgerschaft geht auf den Vertrag von Maastricht aus dem Jahr 1992 zurück. Er sieht vor, dass jeder EU-Bürger in allen Mitgliedstaaten als gleich behandelt werden muss. Auf Gemeindeebene besitzen alle EU-Bürger das aktive und passive Wahlrecht. Diese politischen Rechte standen bei den Verhandlungen mit der Schweiz nie zur Debatte – anders als die Richtlinie über die Freizügigkeit, die Brüssel mit dem sogenannten Rahmenabkommen auf die Schweiz ausdehnen will. Namentlich bei der Sozialhilfe hätte dies Konsequenzen: Innerhalb der EU sind Zuwanderer nach fünf Jahren Aufenthalt grundsätzlich Inländern gleichgestellt, dürfen also im Bedarfsfall die gleichen Ansprüche anmelden. In der Schweiz gilt diese faktische Gleichberechtigung erst nach 15 Jahren. Wird ein EU-Bürger nach fünf Jahren in der Schweiz Sozialhilfeempfänger, wäre es künftig nach Brüsseler Lesart nicht mehr zulässig, ihm die Aufenthaltsbewilligung zu verweigern. Heute gilt der Bezug von Sozialhilfe als Grund, die Niederlassungsbewilligung zu widerrufen.
Der Gedanke einer gemeinsamen Unionsbürgerschaft geht auf den Vertrag von Maastricht aus dem Jahr 1992 zurück. Er sieht vor, dass jeder EU-Bürger in allen Mitgliedstaaten als gleich behandelt werden muss. Auf Gemeindeebene besitzen alle EU-Bürger das aktive und passive Wahlrecht. Diese politischen Rechte standen bei den Verhandlungen mit der Schweiz nie zur Debatte – anders als die Richtlinie über die Freizügigkeit, die Brüssel mit dem sogenannten Rahmenabkommen auf die Schweiz ausdehnen will. Namentlich bei der Sozialhilfe hätte dies Konsequenzen: Innerhalb der EU sind Zuwanderer nach fünf Jahren Aufenthalt grundsätzlich Inländern gleichgestellt, dürfen also im Bedarfsfall die gleichen Ansprüche anmelden. In der Schweiz gilt diese faktische Gleichberechtigung erst nach 15 Jahren. Wird ein EU-Bürger nach fünf Jahren in der Schweiz Sozialhilfeempfänger, wäre es künftig nach Brüsseler Lesart nicht mehr zulässig, ihm die Aufenthaltsbewilligung zu verweigern. Heute gilt der Bezug von Sozialhilfe als Grund, die Niederlassungsbewilligung zu widerrufen.