In der Corona-Krise wagen einige Kantone den Alleingang. Der Kanton Tessin macht viele Bau- und Industriefirmen dicht, die Kantone Genf und Waadt schliessen Baustellen. Und der Kanton Uri verhängte eine Ausgangssperre für Rentner – wurde aber vom Bund zurückgepfiffen.
Heute trafen sich Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga (59) und die Bundesräte Alain Berset (47) und Guy Parmelin (60) mit den Regierungspräsidenten der Kantone zur Aussprache. Wie ein Teilnehmer berichtet, sei es Sommaruga darum gegangen, sich auszutauschen und einander zu «spüren». Die Krise sei ein «Stresstest für den Föderalismus».
Tessin verstösst gegen Bundesrecht
Generell lobten die Kantone den Bundesrat für seine Führungsrolle, die er übernommen hatte. Die Bundesräte wiederum machten klar, dass die Kantone das nationale Notrecht vollziehen müssten – aber nicht mehr. Den Tessinern wurde dabei klar gemacht, dass ihre Vorschriften zu weit gingen und bundesrechtswidrig seien.
Die Kantone könnten nur einzelne Unternehmen schliessen, wenn die Schutzmassnahmen nicht eingehalten werden könnten. Eine generelle Schliessung sei aber nicht möglich.
Das machte Martin Dumermuth, Direktor des Bundesamts für Justiz, auch an einer Pressekonferenz vom Montag klar: «Die Kantone können Betriebe im Einzelfall schliessen – aber nur im Einzelfall», betonte er. Das habe der Bundesrat in seiner Verordnung so geregelt. Betriebsschliessungen, etwa auch temporär, seien nur möglich, wenn die Hygiene- und Abstandsvorschriften nicht eingehalten werden könnten. «Weitergehende Regelungen für generelle Betriebsschliessungen sind nicht mehr rechtskonform», so Dumermuth. Die Bestimmungen des Tessiner Staatsrats gingen teils über die Bestimmungen des Bundes hinaus – etwa bei Hotels, Baustellen oder Industriebetrieben. «Betroffene Firmen können sich zur Wehr setzen.»
Tessiner halten an Massnahmen fest
Der Kanton Tessin hält an seiner Regelung trotzdem fest, wie der Tessiner Staatsrat Norman Gobbi gegenüber BLICK betont: «In dieser besonderen Situation, in der sich das Tessin befindet, sind besondere Massnahmen erforderlich – wie die Schliessung der Wirtschaftstätigkeit bis am 29. März», so Gobbi. «Ich vertraue darauf, dass der Bundesrat auch nach unserer heutigen Sitzung die Notwendigkeit dieser Entscheidung versteht.»
Die Kritik komme von einem hohen Beamten, sagt Gobbi. Die Frage der Rechtmässigkeit bleibe zwar offen, aber: «Die Massnahmen des Kantons Tessin bleiben in Kraft.» Gobbi betont weiter, dass jede Massnahme dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit entsprechen und die Grundrechte der Bürger berücksichtigen müsse.
Dass der Staatsrat auf stur schaltet, kommt nicht von ungefähr. Der Kanton Tessin ist besonders stark betroffen und zählte am Montagmorgen 1165 Corona-Fälle. Innert 24 Stunden stieg die Zahl der Todesfälle um elf auf 48.
Keine Ausgangssperre
Klar gemacht wurde auch, dass eine kantonale Ausgangssperre nicht möglich sei. Allgemein will der Bund vorerst auf eine nationale Ausgangssperre verzichten. Die Bundesräte verwiesen darauf, dass man in anderen Ländern damit auch negative Folgen beobachtet habe.
Etwa Todesfälle wegen häuslicher Gewalt oder psychische Probleme. «Die Botschaft war: Der Bundesrat will nicht alle einsperren», so ein Teilnehmer zu BLICK. Auch die Kantone hätten nicht auf eine nationale Ausgangssperre gedrängt.
Krisenfenster für Kantone
Allerdings habe der Bund auch anerkannt, dass gewisse Kantone und Regionen spezifische Probleme hätten. «Das Virus kommt nicht zur gleichen Zeit und im gleichen Ausmass in allen Kantonen», das habe Sommaruga sinngemäss gesagt.
Der Bund will den betroffenen Kantonen nun entgegenkommen: Er prüft zeitlich und räumlich «Krisenfenster» für besonders betroffene Kantone oder Regionen. «Man überlegt sich, ob man den besonders betroffenen Kantonen im Ausnahmefall ein Krisenfenster öffnen kann, wobei man für spezifische Regionen andere Beschlüsse fassen kann», so der Teilnehmer. «Da ist ein Prozess im Gang.»
BJ-Direktor Dumermuth bestätigt an der Pressekonferenz, dass der Bund diese Massnahme prüft. Die Idee sei aufgekommen, dass man für «einzelne Kantone in besonderen Situationen auch besondere Möglichkeiten eröffnen könnte», so Dumermuth. Diese Fenster würden nur auf Gesuch hin und befristet eröffnen. Derzeit prüfe der Bund, unter welchen Kriterien und mit welchem Verfahren solche Krisenfenster möglich seien. Entscheidend sei dabei, dass dies im Bundesrecht geregelt würde. «Am Schluss muss der Bundesrat entscheiden, ob das eine gangbare Lösung ist» so Dumermuth.
Ein Krisenfenster für Verbier?
Wäre etwa die besonders betroffene Gemeinde Verbier VS ein Fall für ein Krisenfenster? Denn dort wird eine grosse Dunkelziffer an Corona-Fällen erwartet. Deshalb ist auch eine Quarantäne für die Gemeinde ein Thema.
Allerdings zeigt sich der Bund diesbezüglich skeptisch, wie der Walliser CVP-Staatsrat Roberto Schmidt gegenüber BLICK erklärt: «Der Bund hat klar signalisiert, dass er für die Verfügung von Quarantänen alleine zuständig sei.» Die Kantone hätten hier keinen Handlungsspielraum und müssten den Entscheid respektieren. «Hingegen können wir andere Massnahmen treffen, um selbst ohne Quarantäne die Verbreitung des Virus zu verlangsamen – zum Beispiel die Schliessung von Spielplätzen, erhöhter Abstand in Geschäften, strengere Kontrollen der Hygienemassnahmen und Einhaltung des Ansammlungverbotes, usw.»
Simonazzi: «Zusammen und koordiniert»
In einem Tweet nach dem Treffen betonte Bundesratssprecher André Simonazzi, dass Bund und Kantone im Kampf gegen das Coronavirus in «zusammen und koordiniert» vorgehen müssten. Nur das gemeinsame Handeln aller Behörden sichere die Effizienz im Kampf gegen die Epidemie.