Christian Vitta ist die Alternative zu Ignazio Cassis
Der andere Tessiner

Nach dem Rücktritt von FDP-Bundesrat Didier Burkhalter war schnell der Tessiner FDP-Fraktionschef Ignazio Cassis in der Poleposition. Doch inzwischen gibt es im Tessin auch Stimmen, die vor einem Risiko mit nur einer Kandidatur warnen. Darum steht Finanzdirektor Christian Vitta (44) unvermittelt im nationalen Fokus als valable Tessiner Bundesratsalternative. Gegenüber BLICK gibt er erstmals genau Auskunft.
Publiziert: 04.07.2017 um 23:41 Uhr
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Aktualisiert: 05.10.2018 um 02:08 Uhr
Möglicher Bundesratskandidat Christian Vitta auf dem Castelgrande in Bellinzona.
Foto: Philippe Rossier
Interview: Christian Dorer, Matthias Halbeis

Geht es um die Nachfolge von Didier Burkhalter, spricht zurzeit alles für Ignazio Cassis (56). Er ist aus der richtigen Partei, der FDP. Und er kommt aus dem richtigen Kanton, dem Tessin. Es gibt aber auch Vorbehalte gegen den Chef der FDP-Nationalratsfraktion: Sein Engagement für die Krankenkassen-Branche führt zu Interessenkonflikten. Und mit seiner Rolle bei der Beratung der Rentenreform hat er sich Feinde geschaffen.

Aber die Tessiner FDP will nur einen Kandidaten nominieren. Eine riskante Strategie, warnen immer mehr Freisinnige. Denn setzen sich die Zweifel an Cassis durch, könnte die italienische Schweiz abermals leer ausgehen. Schickt die Tessiner FDP doch zwei Leute ins Rennen? Dann rückt auch FDP-Staatsrat Christian Vitta in den Fokus. Er bringt lange Exekutiverfahrung mit. Erstmals äussert sich Vitta im BLICK zu seinen Ambitionen und formuliert sein «Regierungsprogramm».

Am Montagnachmittag sind die Temperaturen in Bellinzona, der Hauptstadt des Tessins, mehr als sommerlich heiss. Um 16 Uhr empfängt Finanzdirektor Christian Vitta (44) BLICK in seinem Büro, das in einem modernen Bürobau an der Piazza Governo liegt. Zum Empfang gibt es einen italienischen Espresso, der einem durch seinen Charakter unvermittelt klarmacht, dass man sich hier auf der Südseite des Gotthards befindet.

BLICK: Ignazio Cassis wird als Favorit gehandelt. Was braucht es, damit Sie zur Bundesratswahl antreten?
Christian Vitta: Mein Entscheid hängt von meiner Partei ab. Sie wird entscheiden, wie viele Kandidaten sie zuhanden der FDP Schweiz nominiert. Ist es nur einer, dann hat Ignazio Cassis sicher die besseren Karten. Wenn die FDP Tessin auf mehrere Kandidaturen setzt, sieht die Sache anders aus.

Was wären Ihre Trümpfe gegenüber Cassis?
Ich bringe Exekutiverfahrung mit: Ich war 15 Jahre Gemeindepräsident, bin seit zwei Jahren Regierungsrat. Ich vertrete eine andere Generation von Politikern. Ich bin eindeutig jünger als Ignazio Cassis. Das kann ein Vor-, aber auch ein Nachteil sein. Und ich habe einen ganz anderen Hintergrund: Ich bin Ökonom.

«Das Amt gibt einem die Kraft für die Verantwortung, die man trägt.»
Foto: Philippe Rossier

Sie sind aus dem Sopra-Ceneri, Cassis aus dem Sotto-Ceneri. Was bedeutet das?
Keine Frage, diese Rivalität gibt es bis heute. Doch jetzt hat das Tessin die historische Chance, einen Bundesrat zu stellen. Da sollte das gesamte Tessin dahinterstehen und für einmal keinen Unterschied machen, ob jemand von oberhalb oder von unterhalb des Monte Ceneri kommt.

Was reizt Sie am Bundesratsamt?
Meine Themen sind Wirtschaft und Finanzen. Das könnte ich in allen Departementen einbringen. Selbst im Gesundheitswesen sehen wir derzeit: Es geht weniger um Gesundheit, sondern mehr um Finanzprobleme.

Trauen Sie sich das Amt zu?
Ich glaube, das Amt gibt einem dann auch die Kraft für die Verantwortung, die man trägt.

In Frankreich begeistert Emanuel Macron die Menschen, in Österreich Sebastian Kurz. Beide gehören einer völlig neuen Generation junger Politiker an. Ein gutes Omen für Sie?
Macron hat die Ideologisierung überwunden. Die Wähler haben ihm dafür das Vertrauen geschenkt. Vielleicht liegt darin die Chance für eine bürgerliche Partei wie die FDP: Sie muss einen Mittelweg finden. Wir müssen unsere Werte verteidigen, aber wir müssen uns auch für pragmatische Lösungen einsetzen. Wir müssen bereit sein, Kompromisse einzugehen.

Ihr Handicap: Sie sind nicht vernetzt in Bundesbern.
Ganz ohne Netzwerk stehe ich nicht da: Als Grossrat war ich Mitglied der interkantonalen Lotterie- und Wettspielkommission. Heute bin ich Bankrat der Schweizerischen Nationalbank, dazu präsidiere ich die Konferenz der Gebirgskantone. Und schliesslich bin ich Vizepräsident der FDP Schweiz.

Die Bundesratskandidaten werden stark danach beurteilt werden, ob sie für oder gegen die Altersreform sind. Was ist Ihre Haltung?
Ich bin sehr für Kompromisse, und ich finde es schade, dass man bei der Altersreform keinen zusammen mit der FDP gefunden hat. Ich vertrete die Haltung meiner Partei. Wir müssen auch andere Wege finden, um die Finanzierungslücken der Pensionskassen langfristig zu sichern. Denn eines ist klar: Wir werden immer älter und an den Finanzmärkten kann man kaum mehr die nötigen Renditen erzielen. Beides führt am Ende zum Kollaps der Kassen und zu Konflikten zwischen Jung und Alt. Der Generationenvertrag ist in Gefahr.

Sie sind Mitglied der FDP-Parteileitung. Was ist die richtige Strategie für die Bundesratswahl: Einervorschlag, Zweiervorschlag, zwei Tessiner, ein Tessiner und ein Romand?
Diese Frage kann ich nicht beantworten, weil ich involviert bin. Darum ist meine Einschätzung nicht neutral.

«Ich stehe nicht ganz ohne Netzwerk da.»
Foto: Philippe Rossier

Was sagt Ihre Frau zu einer möglichen Bundesratskandidatur?
Ich warte zuerst den Entscheid meiner Kantonalpartei ab, deshalb gab es noch keine offiziellen Gespräche (lacht). Aber im Ernst: Selbstverständlich wäre das eine einschneidende Änderung in meinem Leben. Ich war 15 Jahre lang Gemeindepräsident, jetzt bin ich Regierungsrat: Meine Familie weiss, dass Politik sehr zeitintensiv sein kann. Meine Kinder interessieren sich schon ein wenig für die Politik. Und dann ist meine Frau selbst Mitglied im Gemeindeparlament und bringt auch darum grosses Verständnis für meine politische Tätigkeit auf. Darum bin ich hoffnungsvoll, dass ich meine Frau überzeugen könnte, wenn es nötig wäre.

Ihre Frau politisiert auch in der FDP?
Ja klar. Wäre sie nicht in der FDP, wäre das wohl schwierig.

Ihr Vater war ebenfalls Politiker, war lange im Gemeinderat. Was sagt er zu Ihren Überlegungen?
Wir haben noch nicht ernsthaft darüber diskutiert. Wissen Sie, wenn Sie in einer Gemeinde tätig sind, dann ist bereits der Kanton weit weg. Bern wäre noch viel weiter weg.

Vittas Programm für den Bundesrat

Warum ein Tessiner Bundesrat?
«Ein Tessiner Bundesrat muss nicht in erster Linie Tessiner Interessen vertreten. Das ist Aufgabe unserer Ständeräte. Es geht darum, die Sensibilität der italienischen Schweiz, deren Alltagskultur in die Landesregierung zu tragen. Als Regierungsrat lebe ich in engem Austausch mit Europa. Das Tessin ist Grenzkanton mit allem, was dazugehört: freundschaftlicher Nachbarschaft, Konflikten, Abgrenzung, aber auch Vertrautheit. Ein Tessiner Bundesrat kann all diese Erfahrungen einbringen.»

Was ist heute wichtig für die Schweiz?
«Unser Land gehört zu den innovativsten Industrienationen der Welt. Das ist die geniale Leistung vieler Generationen von Unternehmern und deren Angestellten – der Stolz der Schweiz! Dazu zählt auch der Finanzplatz. Doch gerade das Tessin hat erlebt, wie rasch sich durch Druck von aussen alles ändern kann. Das Bankgeheimnis konnte man uns nehmen – doch nicht die Produkte unserer Industrie. Und auch der Tourismus hat beste Aussichten: Ein sauberes und sicheres Land ist gerade in Zeiten globaler Unsicherheit gefragt. Aus diesen Gründen wollen auch wohlhabende Menschen fest hier wohnen. Das ist in Ordnung. Wir dürfen jedoch nicht zu einem Reservat werden. Die Schweiz muss primär ein wirtschaftlicher Standort und ein Werkplatz bleiben.»

Wie gehen wir mit Einwanderung um?
«Als vielkulturelle Nation können wir mit dem Anderssein umgehen. Wir sollten aber nicht multikultureller Romantik verfallen. Die Einwanderung ist eine gewaltige Herausforderung – und wir müssen die Kontrolle darüber haben. Dazu müssen wir klarmachen, was bei uns gilt. Insbesondere bei den Rechten der Frau darf es keinen Kompromiss geben. Das sage ich auch als Vater dreier Kinder. Hier müssen wir kompromisslos Integration einfordern und die Akzeptanz unseres Rechtssystems. Bei aller Solidarität mit Flüchtlingen dürfen wir die Ängste der Schweizerinnen und Schweizer nicht vergessen. Und die drehen sich um unsere So-
zialwerke. Sie sind das Ergebnis einheimischer Leistung, sie halten nicht jeder Belastung stand. Wir müssen ihnen Sorge tragen!»

Wie regeln wir unser Verhältnis zu Europa?
«Wir sollten ohne Verkrampfung einen Modus Vivendi finden. Wir brauchen Europa – und Europa braucht die Schweiz, man denke nur an die Alpendurchgänge für den Güterverkehr. Wir gehören zusammen. Derzeit erleben wir einen europäischen Aufbruch bei unserem Nachbarn Frankreich. Das sollte uns positiv stimmen. In der Vergangenheit hatte ich den Eindruck, die Schweiz sei von Schadenfreude erfüllt, wenn es Europa schlecht geht, weil man glaubte, das liege in unserem Interesse. Das Gegenteil ist der Fall: Geht es Europa gut, geht es auch uns gut.»

Was tun wir für Bildung?
«Schon als Kind habe ich gelernt: Die Bildung ist der Rohstoff unseres rohstoffarmen Landes. In der Schweiz sind Universität und Berufslehre gleichwertig. Seit 2006 schreibt das sogar die Bundesverfassung vor! Ein Handwerker ist ebenso wertvoll wie ein Betriebswirtschafter. Warum betone ich das? Weil Einkommensexzesse, verursacht durch die Globalisierung, leider ein falsches Bild vermitteln: Die Krankenschwester scheint weniger wert zu sein als ein Top-Manager. Da braucht es einen Bewusstseinswandel.»

Welche FDP braucht die Schweiz?
«Ich bin stolz, ein Freisinniger zu sein. Meine Partei hat den Bundesstaat gegründet und ihn über Generationen hinweg angeführt. Deshalb schmerzt mich der Wählerschwund. Ich bin überzeugt: Wenn der Freisinn wieder kämpferisch wird, dann schaffen wir den Aufschwung! Kämpferisch bedeutet Verantwortung zu übernehmen: wirtschaftlich, sozial und kulturell. Schliesslich ist Liberalismus nicht einfach ein ökonomisches Bekenntnis. Wer liberal sein will, braucht ein Gefühl fürs Ganze.»

Warum ein Tessiner Bundesrat?
«Ein Tessiner Bundesrat muss nicht in erster Linie Tessiner Interessen vertreten. Das ist Aufgabe unserer Ständeräte. Es geht darum, die Sensibilität der italienischen Schweiz, deren Alltagskultur in die Landesregierung zu tragen. Als Regierungsrat lebe ich in engem Austausch mit Europa. Das Tessin ist Grenzkanton mit allem, was dazugehört: freundschaftlicher Nachbarschaft, Konflikten, Abgrenzung, aber auch Vertrautheit. Ein Tessiner Bundesrat kann all diese Erfahrungen einbringen.»

Was ist heute wichtig für die Schweiz?
«Unser Land gehört zu den innovativsten Industrienationen der Welt. Das ist die geniale Leistung vieler Generationen von Unternehmern und deren Angestellten – der Stolz der Schweiz! Dazu zählt auch der Finanzplatz. Doch gerade das Tessin hat erlebt, wie rasch sich durch Druck von aussen alles ändern kann. Das Bankgeheimnis konnte man uns nehmen – doch nicht die Produkte unserer Industrie. Und auch der Tourismus hat beste Aussichten: Ein sauberes und sicheres Land ist gerade in Zeiten globaler Unsicherheit gefragt. Aus diesen Gründen wollen auch wohlhabende Menschen fest hier wohnen. Das ist in Ordnung. Wir dürfen jedoch nicht zu einem Reservat werden. Die Schweiz muss primär ein wirtschaftlicher Standort und ein Werkplatz bleiben.»

Wie gehen wir mit Einwanderung um?
«Als vielkulturelle Nation können wir mit dem Anderssein umgehen. Wir sollten aber nicht multikultureller Romantik verfallen. Die Einwanderung ist eine gewaltige Herausforderung – und wir müssen die Kontrolle darüber haben. Dazu müssen wir klarmachen, was bei uns gilt. Insbesondere bei den Rechten der Frau darf es keinen Kompromiss geben. Das sage ich auch als Vater dreier Kinder. Hier müssen wir kompromisslos Integration einfordern und die Akzeptanz unseres Rechtssystems. Bei aller Solidarität mit Flüchtlingen dürfen wir die Ängste der Schweizerinnen und Schweizer nicht vergessen. Und die drehen sich um unsere So-
zialwerke. Sie sind das Ergebnis einheimischer Leistung, sie halten nicht jeder Belastung stand. Wir müssen ihnen Sorge tragen!»

Wie regeln wir unser Verhältnis zu Europa?
«Wir sollten ohne Verkrampfung einen Modus Vivendi finden. Wir brauchen Europa – und Europa braucht die Schweiz, man denke nur an die Alpendurchgänge für den Güterverkehr. Wir gehören zusammen. Derzeit erleben wir einen europäischen Aufbruch bei unserem Nachbarn Frankreich. Das sollte uns positiv stimmen. In der Vergangenheit hatte ich den Eindruck, die Schweiz sei von Schadenfreude erfüllt, wenn es Europa schlecht geht, weil man glaubte, das liege in unserem Interesse. Das Gegenteil ist der Fall: Geht es Europa gut, geht es auch uns gut.»

Was tun wir für Bildung?
«Schon als Kind habe ich gelernt: Die Bildung ist der Rohstoff unseres rohstoffarmen Landes. In der Schweiz sind Universität und Berufslehre gleichwertig. Seit 2006 schreibt das sogar die Bundesverfassung vor! Ein Handwerker ist ebenso wertvoll wie ein Betriebswirtschafter. Warum betone ich das? Weil Einkommensexzesse, verursacht durch die Globalisierung, leider ein falsches Bild vermitteln: Die Krankenschwester scheint weniger wert zu sein als ein Top-Manager. Da braucht es einen Bewusstseinswandel.»

Welche FDP braucht die Schweiz?
«Ich bin stolz, ein Freisinniger zu sein. Meine Partei hat den Bundesstaat gegründet und ihn über Generationen hinweg angeführt. Deshalb schmerzt mich der Wählerschwund. Ich bin überzeugt: Wenn der Freisinn wieder kämpferisch wird, dann schaffen wir den Aufschwung! Kämpferisch bedeutet Verantwortung zu übernehmen: wirtschaftlich, sozial und kulturell. Schliesslich ist Liberalismus nicht einfach ein ökonomisches Bekenntnis. Wer liberal sein will, braucht ein Gefühl fürs Ganze.»

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