«Die alte Zauberformel wurde am 20. Oktober von den Stimmberechtigten gesprengt», redet Grünen-Fraktionschef Balthasar Glättli (47) den National- und Ständeräten am frühen Mittwochmorgen ins Gewissen. Seine Partei ist vor wenigen Wochen zur viertstärksten Kraft im Nationalrat aufgestiegen. Jetzt will sie einen Bundesratssitz.
Doch so viel Sprengkraft wie sich Glättli erhofft, hat der Wahltag nicht.
Pfister setzt Spitze gegen Walti ab
Zunächst lasst Beat Walti (51) die Bundesversammlung wissen, dass die FDP alle Bundesräte zur Wiederwahl empfiehlt, und zwar «unabhängig von der politischen Leistung». CVP-Präsident Gerhard Pfister (57) weist spitz auf Twitter darauf hin, dass Walti der einzige Fraktionschef ist, der unterstreiche, dass die Leistung keine Rolle spiele. Klar, dass Pfister auf den Tessiner Cassis zielt, mit dessen Arbeit das Parlament unzufrieden ist.
Dennoch: Von den 46 Ständeräten und 198 anwesenden Nationalräten im Saal votieren 145 für Cassis, 82 National- und Ständeräte schreiben Rytz auf den hellblauen Wahlzettel. Fast alle im links-grünen Lager, das auf 83 Sitze kommt, sind für die Bernerin – oder gegen Cassis. Das reicht weit bei weitem nicht.
Rytz lächelt tapfer und wird getröstet
Um 10.11 Uhr ist der Traum von der ersten grünen Bundesrätin geplatzt. Rytz lächelt tapfer, als Nationalratspräsidentin Isabelle Moret (48, FDP) das Resultat des fünften Wahldurchgangs verliest. Erst als sich die Kameras abwenden, spiegelt sich im Gesicht der Grünen die Enttäuschung. Als Erste eilt die Tessiner Parteikollegin Greta Gysin (36) herbei, um ihre Präsidentin zu trösten. Kurz darauf ist Rytz umringt von grünen Freunden. Auch SPler kommen, um sie zu herzen.
Rytz verbringt den allergrössten Teil des Morgens im Nationalratssaal. Nah bei ihren Gschpänli – und weit weg von den Journalisten, die jede Bewegung der Bundesratskandidatin verfolgen. Ihr kommt es gelegen, dass der Wahlmorgen noch fast zwei Stunden weitergeht.
Glanzresultat für Amherd ...
Nach Rytz wird Viola Amherd (57, CVP) mit 218 Stimmen glanzvoll bestätigt. Es ist fast ein historisches Resultat. Nur der SPler Hans-Peter Tschudi (†88) hat vor knapp 50 Jahren zwei Stimmen mehr geholt.
Als siebte ist Karin Keller-Sutter (55, FDP) an der Reihe. Sie kann sich zwar über ihre Wiederwahl freuen – übers Resultat aber nicht: Nur 169 Stimmen – eine Klatsche, wie es gar aus ihrer Partei heisst. 21 Parlamentarier haben statt ihrem Namen Marcel Dobler (39) auf den Zettel geschrieben. Marcel wer? Die Google-Statistik zeigt, dass nach der Wahl eifrig nach dem St. Galler FDP-Nationalrat gesucht wurde.
... «Klatsche» für Keller-Sutter
Seine 21 Abweichlerstimmen dürften aus der SVP stammen, die Keller-Sutter einen Denkzettel verpassen wollte. Wohl dafür, dass sie eine Überbrückungsrente für über 60-Jährige aufgleiste, um so die Kündigungs-Initiative zu bodigen.
Auch die Linken melden bei der Wahl Keller-Sutters Bedenken an: 37 Parlamentarier werfen den Wahlzettel leer ein. Es dürften Sozialdemokraten und Grüne sein, die ihren Unmut über die FDP-Übervertretung zum Ausdruck bringen.
Unverständnis über die GLP
Fragen wirft die Rolle der Grünliberalen bei den gestrigen Wahlen auf. Die Journalisten sprechen Glättli und Rytz immer wieder auf die fehlende Unterstützung durch die Ökopartei an. Doch diese mögen die GLP nicht kritisieren.
Die Fragen zeugen von Unverständnis darüber, dass die GLP sich nicht für einen Klimabundesrat stark gemacht hat. Doch wer die Grünliberalen wählte, dem liegt zuerst die Ökologie am Herzen. Danach entscheidet er sich, ob er für eine Partei ist, die linke Politik betreibt. Oder lieber für eine, die am rechten Rand der Mitte politisiert.
Einer Stärkung der Ökologie haben die Grünliberalen am gestrigen Wahltag aber keine Beachtung geschenkt.
Rytz hofft auf 2023
So oder so: Künftig werden alle Parteien mehr fürs Klima tun müssen. Die Kurskorrektur der FDP macht es vor. Halten die Freisinnigen Wort, graben sie den Grünliberalen das Wasser ab.
Die Grünen müssen auf die Grünliberalen keine Rücksicht nehmen. Sie haben ihren eigenen Weg zu gehen. Parteichefin Regula Rytz selbst machte im Gespräch mit BLICK klar, dass es in vier Jahren an der Bevölkerung sein wird, die ökologische Kraft noch mehr zu stärken. «Damit eine Beteiligung der Grünen im Bundesrat möglich wird.»
«Ein Fuss in der Türe»
Und um zu verdeutlichen, dass die Grünen seit gestern Anspruch erheben auf eine Regierungsbeteiligung, sei es wichtig gewesen, dass man «heute einen Fuss in die Türe halten konnte».
Die Hoffnung so manch eines Bürgerlichen, die Ökowelle flache bald wieder ab, könnte durch weitere Hitzesommer, immer rascheres Gletscherschmelzen und das Bröckeln der Berge zerstört werden. Der Wille der Grünen, in der Regierung etwas gegen den Klimawandel zu tun, kaum.