SonntagsBlick: Herr Cassis, wie findet es Ihre Frau, dass Sie Bundesrat werden wollen?
Ignazio Cassis: Sie ist nicht begeistert. Aber Sie sagte mir: «Ich sehe, wie begeistert du von dieser Kandidatur bist. Also unterstütze ich dich.» Es war fast eine Liebeserklärung.
Sie sind kinderlos. Ein bewusster Entscheid, um sich der Karriere zu widmen?
Überhaupt nicht. Meine Frau und ich wollten Kinder, aber es sind keine gekommen. Wir haben uns sogar überlegt, Kinder zu adoptieren.
Und Sie waren dann dagegen?
Wir haben so lange gezögert, dass es letztlich zu spät war. Aber dass wir so lange überlegten, zeigt vielleicht, dass wir nicht hundertprozentig überzeugt waren. So wurde es ein Leben ohne Kinder.
Könnte das für den Bundesrat ein Vorteil sein? Sie könnten sich ganz dem Amt widmen.
Da gibt es keine Regel. Jemand, der kinderlos ist und deswegen depressiv wird, nützt als Bundesrat sicher ebenso wenig wie jemand, der zu stark mit seinen Kleinkindern beschäftigt ist.
Der Vorstand der Tessiner FDP hat Sie am Dienstag als alleinigen Kandidaten portiert. Wie haben Sie den Rest der Woche erlebt?
Wie einen Tsunami. Medienrummel habe ich schon mehrmals erlebt, etwa bei der Annahme der Masseneinwanderungs-Initiative, aber so personenzentriert war er noch nie.
Haben Sie mit Kritik gerechnet?
Ich habe erwartet, dass auch viel Gift fliesst. Wie vor jeder Bundesratswahl.
Verstehen Sie die Einwände gegen das Vorgehen der Tessiner Parteileitung?
Ich glaube, jede Strategie wäre kritisiert worden. Die Kantonalpartei hat ihre Strategie gewählt, da war ich nicht involviert. Ich habe einzig darum gebeten, das Ganze zu verzögern, damit ich noch ein paar ruhige Tage habe (lacht).
Passt der Einervorschlag der Parteispitze zu einer Volkspartei? Viele verlangen eine Auswahl.
Ich habe mich da bewusst rausgehalten. Ich konzentriere mich auf die Kandidatur. Die Strategie ist Sache der Partei.
Am 20. September wird die FDP wohl ein Zweierticket präsentieren. Soll die zweite Person eine Frau sein?
Das sind strategische Fragen, zu denen ich mich als Kandidat nicht äussern kann.
Hätten Sie vor der Bundesversammlung lieber Konkurrenz aus dem Welschland oder aus dem Tessin?
Ich kann mit beidem leben. Es ist keine Präsidialwahl à la Macron. Hier geht es darum, das Siebtel einer Gesamtregierung zu besetzen. Das ist die Schweiz. Ein Bundesrat hat nicht die Macht, das Schicksal des Landes zu bestimmen.
Unter der Bundeshauskuppel geht es um viel. Dort verkörpern Sie einen Widerspruch: Sie sind Arzt und lobbyieren für einen Krankenkassenverband.
Das ist kein Widerspruch (nimmt ein Blatt Papier und beginnt zu zeichnen). Unser Gesundheitswesen gleicht einem Dreieck: Der Staat sorgt für die Regeln, und auf der einen Seite sind die Leistungserbringer, auf der anderen die Versicherer. Diese regeln im Auftrag der Versicherten die Details mit den Leistungserbringern. Ich kenne die Optik der Ärzte, ich war als Kantonsarzt auch beim Staat. Mir fehlte noch die Perspektive der Versicherer. Als 2013 der Verband Curafutura gegründet wurde, bekam ich die Chance, auch diese Sichtweise zu entdecken. Somit kenne ich jetzt das ganze System.
Verstehen Sie, dass die Bevölkerung an der Unabhängigkeit von Politikern zweifelt, die hoch bezahlte Mandate entgegennehmen?
Das ist eine Grundsatzfrage des Milizparlaments. Hier stammt jeder Politiker aus einem Beruf, den er gelernt hat und kennt. In einer Bank oder in einem Elektrizitätswerk hätte ich wenig beizutragen.
Aber in einer Arztpraxis!
Wenn die Leute wollen, dass die 246 Bundesparlamentarier keiner Arbeit nachgehen, sind wir beim Berufsparlament. Aber gibt es in den Parlamenten unserer Nachbarländer weniger Interessenkonflikte? Verbände und Berufsorganisationen haben eine wichtige Scharnierfunktion zwischen Politik und Öffentlichkeit.
Gut, aber die Sache sollte voll transparent sein.
Als Präsident von Curafutura erhalte ich pro Jahr 180’000 Franken. Wir haben das klipp und klar kommuniziert.
Auf welches Gehalt kommen Sie insgesamt?
Ich habe vier Mandate: Ich präsidiere zwei Verbände (Curafutura sowie Curaviva Schweiz) und zwei Stiftungen. Zusammen mit dem Parlamentariergehalt komme ich auf rund 300’000 Franken Jahreseinkommen. Daneben habe ich ehrenamtliche Mandate, die auf der Internetseite des Parlaments aufgelistet sind.
Sie sind freisinniger Berufspolitiker. Auch das ist ein Widerspruch.
Von den 40’000 tätigen Ärzten in der Schweiz sind 53 Prozent Angestellte. Ich war jahrelang öffentlich angestellter Arzt – übrigens bei einem SP-geführten Departement. Mich interessiert die Allgemeinheit mehr als mein privates Geschäft.
Sehr ungewöhnlich für einen FDP-Politiker ...
In den Augen vieler Menschen stehen die Liberalen heute für die Wirtschaft und die SP für den Staat. Dabei geht vergessen, dass die Liberalen einst die wichtigsten staatlichen Infrastrukturen geschaffen haben. Nehmen Sie nur die ETH, die ein Verdienst der Liberalen ist. Liberalismus steht für einen schlanken, aber starken Staat, der dort tätig wird, wo Gesellschaft und Wirtschaft die Probleme nicht lösen können.
Was heisst das ganz konkret: Hat es in der Landwirtschaft zu viel Staat?
Ja, ich stehe für mehr Markt in der Landwirtschaft ein.
Das könnte Sie jetzt Stimmen aus der SVP kosten.
Ich bin ich. Ich muss weder Christian Levrat noch Albert Rösti gefallen.
Wie stehen Sie als Liberaler zum Tessiner Burkaverbot?
Das Wort Verbot gefällt mir natürlich nicht. Aber ich will, dass jeder in der Öffentlichkeit sein Gesicht zeigt. Verhüllung ist nur einmal im Jahr akzeptabel – beim Karneval.
Sind Sie für die Homo-Ehe?
Jeder sollte so leben, wie er es wünscht, da bin ich sehr liberal. Gleichgeschlechtliche Paare in einer dauerhaften und staatlich verbrieften Beziehung sollten die gleichen Rechte haben wie Ehepaare. Diese Rechte zu schützen, sollte auch möglich sein, ohne andere zu verletzen, indem man das Ehe nennt.
Sollten Homosexuelle Kinder adoptieren dürfen?
Für mich ist das kein Problem – solange das Wohl des Kindes im Mittelpunkt steht. Wir haben zunehmend Studien, die zeigen, dass es Kindern ebenso gut geht, wenn ihre Eltern zwei Väter oder zwei Mütter sind.
Sollte der Staat mehr für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie tun?
Ja! Für mich stehen hier die Steuern im Fokus. Heute haben in den meisten Familien beide Elternteile eine gute Ausbildung. Damit sich beide dem Beruf widmen können, sollte man sie bei den Kosten für die Kinderbetreuung steuerlich entlasten.
Sie wollen eine Tessiner Perspektive in den Bundesrat einbringen, stehen aber für die Personenfreizügigkeit ein. Im Tessin mag man die EU nicht sonderlich.
Wir brauchen endlich ein Doppelbesteuerungsabkommen inklusive Grenzgänger-abkommen mit Italien! Dann ist die Personenfreizügigkeit auch im Tessin kein Thema mehr. Hier könnte eine Tessiner Vertretung schon einen Impuls geben.
Sie sind jetzt 56 Jahre alt. Wie lange würden Sie im Bundesrat bleiben wollen?
Man weiss nicht, was im Leben passieren wird. Wenn ich zurückschaue, haben die einzelnen Kapitel in meinem Leben immer etwa zehn Jahre gedauert. Zehn Jahre scheinen mir eine vernünftige Zeitspanne zu sein.
Treten Sie aus dem Nationalrat zurück, wenn Sie nicht gewählt werden?
Nein. Aber ich würde mir sehr überlegen, 2019 erneut zu kandidieren.
Ignazio Cassis ist bisher der Einzige, der Didier Burkhalter im Bundesrat beerben will. Der 56-Jährige ist im Dorf Sessa an der Grenze zu Italien geboren und aufgewachsen. Er studierte Medizin an der Universität Zürich und arbeitete später als Tessiner Kantonsarzt. Seit 2007 politisiert er für die FDP im Nationalrat – vornehmlich als Gesundheitspolitiker. Cassis ist kinderlos verheiratet und wohnt mit seiner Frau in Montagnola bei Lugano TI.
Ignazio Cassis ist bisher der Einzige, der Didier Burkhalter im Bundesrat beerben will. Der 56-Jährige ist im Dorf Sessa an der Grenze zu Italien geboren und aufgewachsen. Er studierte Medizin an der Universität Zürich und arbeitete später als Tessiner Kantonsarzt. Seit 2007 politisiert er für die FDP im Nationalrat – vornehmlich als Gesundheitspolitiker. Cassis ist kinderlos verheiratet und wohnt mit seiner Frau in Montagnola bei Lugano TI.