Dort, wo die AKW-Gegner 2011 wochenlang campierten, am Berner Viktoriaplatz, dem Hauptsitz des Energieunternehmens BKW, empfängt die Chefin Suzanne Thoma BLICK. Denn in nicht einmal hundert Tagen zieht die BKW ihrem AKW nach 47 Betriebsjahren den Stecker. Während sich die Konkurrenten im Schweizer Strommarkt schwertun, Axpo und Alpiq aber dennoch an ihren Atomkraftwerken festhalten, geht es der BKW glänzend. Dabei hätte 2019 für die Berner ein Krisenjahr werden sollen.
BLICK: Frau Thoma, Ende Jahr geht Mühleberg vom Netz. Ist das ein Freudentag für Sie?
Suzanne Thoma: Es ist ein Meilenstein. Das Kernkraftwerk war lange Jahre zentral für uns. Ab Ende Jahr ist die BKW dann in erster Linie ein internationales Energie- und Dienstleistungsunternehmen.
Wird es tatsächlich aus rein ökonomischen Gründen abgestellt?
Es war zu hundert Prozent ein unternehmerischer Entscheid. Zur Tatsache, dass sich die notwendigen Investitionen nicht mehr gerechnet hätten, kam hinzu, dass wir wussten, dass sich die BKW ändern musste. Das war einfacher, wenn wir Mühleberg abschalteten. Zu wissen, dass es 2019 vom Netz geht, hat interne Prozesse dynamisiert. Es ist gut, wenn man bei Veränderungsprozessen etwas loslassen kann.
Am 20. Dezember wird der Stecker gezogen. Gibt es eine Feier?
Ja, es gibt würdige Anlässe. Einen ersten für die Mitarbeitenden, um ihre Verdienste anzuerkennen. Sie haben sich 47 Jahre lang für eine sichere Stromversorgung eingesetzt. Dann gibt es einen Anlass für Vertreter aus Branche, Wirtschaft und Politik sowie einen für die Öffentlichkeit.
Wie viel Strom wird Mühleberg bis Ende Jahr produziert haben?
120 Milliarden Kilowattstunden – das ist rund die Menge, welche die Stadt Bern in mehr als 100 Jahren verbraucht.
Die Freude über die AKW-Schliessung war wohl nicht so gross.
Nein. Es haben sich im Werk Mühleberg nur ganz vereinzelte Leute übers Abstellen gefreut. Im ganzen Unternehmen war das ein unerwarteter Entscheid, der gemischte Gefühle hervorrief.
Wie gehen das Abstellen und der Rückbau vonstatten?
Die Stilllegung geschieht in drei Phasen. Am Mittag des 20. Dezembers nehmen wir Mühleberg vom Netz. Nach drei Monaten wird die Radioaktivität um den Faktor 1000 zurückgegangen sein. Dann werden wir noch fünf Jahre lang hoch radioaktive Brennelemente in einem autonomen und separat gekühlten Wasserbecken haben. Parallel dazu beginnen die Rückbauarbeiten.
Und dann?
In der zweiten Phase, nachdem das letzte Brennelement ins Zwischenlager nach Würenlingen gebracht wurde, ist die Radioaktivität nochmals viel tiefer. Man beginnt, die verbleibenden verstrahlten Anlageteile abzumontieren und zu reinigen. Wenn die Verunreinigung entfernt ist, verlassen auch sie das Werk.
Dann gibt es also in der dritten Phase nur noch die Gebäudehülle?
Genau, da haben wir – ausser der natürlichen Strahlung – keine zusätzliche Strahlung mehr. Insgesamt werden 200’000 Tonnen Material weggeführt, davon ist weniger als ein Promille hoch radioaktiv. Mittel und schwach radioaktiv sind etwa zwei Prozent.
Müssen wir in den nächsten Jahren mit mehreren gefährlichen Transporten mit radioaktivem Material rechnen?
Wir haben zwar die Transporte der hoch radioaktiven Brennelemente, aber die haben wir heute schon – und es sind sehr wenige. Und dann die kontrollierten schwach radioaktiven Fuhren. Doch was sonst das Werk verlässt, ist gereinigt. Alles wird unter behördlicher Kontrolle geschehen.
Tragen die Mitarbeiter, die diese Teile reinigen, Schutzanzüge?
Natürlich, Sicherheit hat oberste Priorität. Das ist ganz wichtig. Sie werden nach allen Regeln der Kunst geschützt. Deshalb haben wir vor zwei Jahren in Deutschland eine kleine Strahlenschutzfirma gekauft. Damit wir das nötige Personal für den Strahlenschutz haben.
Mit dem Rückbau Mühlebergs wird der Atomausstieg Tatsache. Aber fürs Klima wären AKW besser als CO2-produzierende Stromerzeugungsanlagen, nicht?
Tatsächlich steckt man hier in einem Dilemma. Aus der CO2-Perspektive wären Kernkraftwerke eine gute Technik. Aber Kernenergie ist heute zu teuer.
In absehbarer Zeit wird kein Unternehmen in Europa ein neues AKW bauen.
Das ist auch unsere Einschätzung. Derzeit werden in Europa nur zwei erstellt. Eines in Finnland und eines in England. Das finnische Werk wurde zu einer ganz anderen Zeit geplant, hat sich aber enorm verzögert. Das zweite ist Hinkley Point. Dieses Projekt ist nur dank einer Art Preisgarantie des britischen Staats auf Jahrzehnte hinaus möglich.
Der BKW wird vorgeworfen, mit Staatsgeldern Ingenieurbüros zusammenzukaufen und die Kleingewerbler zu konkurrenzieren.
Es gibt keine Staatsgelder in unserer Firma. Und: Der Infrastrukturbereich ist ein sehr grosser Markt. Das Bevölkerungswachstum und der Klimawandel führen dazu, dass wir unsere Infrastrukturen anpassen müssen. Nehmen Sie die Wasserversorgung. Das Wasser wird wärmer, mal hat es zu wenig davon, dann fällt es wieder in grossen Schüben an. Das ist ein Beispiel für den Investitionsbedarf bei den Infrastrukturen.
Aber eben, hier graben Sie den KMU das Wasser ab!
Das stimmt einfach nicht. Seit vielen Jahren sind wir dieser pauschalen Kritik ausgesetzt. Konkretisieren kann sie aber niemand. Nehmen Sie den Gebäudetechnikbereich. Hier haben wir nicht einmal einen Marktanteil von 2,5 Prozent. Wir sind der fünftgrösste Dienstleister in diesem Bereich. Auf den Plätzen eins bis drei finden Sie ausländische Grosskonzerne. Das ist unsere Konkurrenz und nicht das Kleingewerbe.
Sie konnten fürs erste Halbjahr sehr gute Zahlen vorlegen.
Danke, darüber freuen wir uns sehr. Der Aktienkurs ist um 15 bis 16 Prozent gestiegen.
Beim Reingewinn plus 59 Prozent. Beim Umsatz plus 7 Prozent. Ist das dem ausgebauten Dienstleistungsbereich geschuldet?
Es ist nicht nur der Dienstleistungssektor, der dazu beiträgt, aber auch. Es ist uns zudem gelungen, im europäischen Energiemarkt besser zu agieren. Zu verstehen, wann wir Strom produzieren oder –manchmal noch wichtiger – das Wasser in den Stauseen aufsparen. Das Erstaunliche ist ja, dass wir für 2019 mit einem Krisenjahr gerechnet hatten.
Das müssen Sie erklären.
Wir verkaufen den grössten Teil unseres Stroms drei Jahre im Voraus – damals noch zu einem sehr tiefen Preis. Wir hatten im ersten Halbjahr 60 Millionen Umsatzverlust beim Strom. Das konnten wir ausgleichen, mit dem richtigen Einsatz unserer Kraftwerke, mit dem Handel, mit dem Dienstleistungsgeschäft, mit Investitionen in erneuerbare Stromproduktion im Ausland. Jetzt gehen wir von einem sehr guten Gesamtjahr 2019 aus.
Sie wollen uns erklären, dass Sie gut gehandelt hätten bis Ende Juli?
Es geht nicht nur um den Handel, das ganze Unternehmen hat eine sehr gute Leistung erbracht. Hätten wir bloss gäng wie gäng gearbeitet, hätten wir in der Stromproduktion einen Verlust ausgewiesen, nicht aber im ganzen Unternehmen. Und weil wir wussten, wie risikoreich das Stromgeschäft ist, haben wir uns mit dem Dienstleistungssektor ein weiteres Standbein aufgebaut, statt bloss auf Strom zu setzen.
Sie sprechen die Konkurrenten Axpo und Alpiq an?
Mit Blick auf die Branche kann ich für die BKW sagen, dass wir nicht so falsch lagen. Wir haben unseren Börsenwert in den letzten Jahren um mehr als zwei Milliarden erhöht und immer Dividenden und Steuern bezahlt.
Strom müsste aber ein Wachstumsmarkt sein. Nehmen Sie die zunehmende Elektromobilität.
Ja, man kann mit Strom viel Geld machen, aber auch viel verlieren. Deshalb wollen wir Stromproduzentin bleiben, aber eben nicht ausschliesslich.
Aber um der Klimaerwärmung zu begegnen, müssen wir doch erneuerbare Energieproduktion zubauen.
Tatsächlich sprechen sich fast alle für den Ausbau von Windkraftwerken und Photovoltaik sowie Wasserkraft aus. Aber im konkreten Fall verzögern Einsprachen das Weiterkommen. Ich bin dennoch wieder zuversichtlicher als auch schon, dass wir hier Lösungen finden.
Ein Thema ist der Stilllegungs- und Entsorgungsfonds. Es gibt Anzeichen, dass die Alpiq-Aktionäre versuchen, sich dieser Kosten zu entledigen. Stimmt es, dass die BKW spezielle Garantien abgeben musste, dass sie noch lange nach dem Abstellen Mühlebergs für die Kosten aufkommen wird?
Nein. Erstens sichern das die geltenden Gesetze ab, zudem zahlen wir in den Stilllegungs- und den Entsorgungsfonds die notwenigen Mittel ein. Weiter hat man heute allen Grund, davon auszugehen, dass die technischen Schätzungen der Kosten korrekt sind. Das heisst, die Gefahr von Kostenüberschreitungen ist sehr klein. Es gibt eine mehrstufige Haftungskaskade und erst im völlig unwahrscheinlichen Fall, dass alle Betreiber von Kernkraftwerken Konkurs gingen, könnte die Bundesversammlung entscheiden, ob sie die Lasten übernehmen will oder nicht.
Jetzt beschönigen Sie. Faktisch hätte das Parlament gar keine andere Wahl, als die Kosten zu übernehmen.
Das ist wohl so, aus diesem Grund enthalten auch schon die technischen Kostenschätzungen Sicherheitsmargen. Hinzu kommen zusätzliche Aufschläge, die die Behörden verlangen, mit denen die Branche aber nur teilweise einverstanden ist.
Mit der Ankündigung des Rücktritts von SBB-Chef Andreas Meyer ist auch dessen Lohn von mehr als einer Million Franken wieder ein Thema. Sein Nachfolger wird weniger bekommen. Sie aber verdienen das Doppelte.
Die BKW lässt sich nicht mit den Bundesbahnen vergleichen. Der BKW-Verwaltungsrat ist daran, meine Vergütung sehr sorgfältig zu prüfen. Er hat im Interesse des Gesamtunternehmens zu entscheiden.
Sie haben also nicht das Gefühl, dass Ihre mehr als zwei Millionen Franken zu viel sind?
Wie gesagt: Es geht darum, was richtig für das Unternehmen ist. Die BKW ist ein sehr erfolgreiches, internationales, börsenkotiertes Unternehmen und unsere Aktionäre, also die Besitzerinnen der BKW, haben damit in den letzten fünf Jahren weit über zwei Milliarden Schweizer Franken verdient.
Schliessen wir mit Mühleberg. 2034 wird das heutige Areal eine grüne Wiese sein. Wünschen Sie sich dort eine Stromproduktionsanlage oder eine Feuerstelle für Familien?
Ich wünsche mir einen starken Industriestandort Schweiz. Und auch der Dienstleistungssektor braucht Strom. Deshalb brauchen wir eine starke Versorgungsinfrastruktur. Möglicherweise macht es Sinn, dass Mühleberg für die Stromerzeugung wieder eine Rolle spielt. Letztlich werden wir 2027 das Gesuch für die Nachnutzung einreichen und dann gemeinsam mit dem Standortkanton entscheiden, was am Standort künftig passieren soll.
Suzanne Thoma (57) arbeitet seit 2010 bei der BKW. 2013 wurde sie Chefin des Energieunternehmens mit Sitz in Bern. Vor ihrem Wechsel zur BKW leitete sie das internationale Automobilzuliefergeschäft der Wicor Group. Zuvor führte sie das Hightech-Start-up-Unternehmen Rolic Technologies AG. Thoma hatte an der ETH Zürich Chemieingenieurtechnik studiert und auf diesem Fachgebiet promoviert. Die im Kanton Zug aufgewachsene Thoma ist Mutter von zwei erwachsenen Töchtern und lebt in der Stadt Bern.
Suzanne Thoma (57) arbeitet seit 2010 bei der BKW. 2013 wurde sie Chefin des Energieunternehmens mit Sitz in Bern. Vor ihrem Wechsel zur BKW leitete sie das internationale Automobilzuliefergeschäft der Wicor Group. Zuvor führte sie das Hightech-Start-up-Unternehmen Rolic Technologies AG. Thoma hatte an der ETH Zürich Chemieingenieurtechnik studiert und auf diesem Fachgebiet promoviert. Die im Kanton Zug aufgewachsene Thoma ist Mutter von zwei erwachsenen Töchtern und lebt in der Stadt Bern.