Am Samstag tritt Paul Rechsteiner (66) als Präsident des Schweizerischen Gewerkschaftsbunds SGB ab. Um seinen Posten bewerben sich der Waadtländer Regierungsrat Pierre-Yves Maillard (50) und die SP-Vize-Präsidentin Barbara Gysi (54). Während Maillard die Sozialpolitik umkrempeln will, setzt Gysi im Gespräch mit BLICK auf die Frauenkarte. Und auf sehr umstrittene Forderungen.
BLICK: Frau Gysi, Sie wollen SGB-Präsidentin werden. Haben Sie gegen Favorit Pierre-Yves Maillard überhaupt eine Chance?
Barbara Gysi: Das Rennen um das SGB-Präsidium ist offener, als man aufgrund der Medienberichte annehmen könnte. Die Frauenfrage hat eine Bedeutung bei dieser Wahl – es ist Zeit für eine Frau an der Spitze. Der SGB muss Themen, die Frauen betreffen, mehr Gewicht geben.
Welchen Themen?
Die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Lohngleichheit, und nicht zuletzt auch dem Frauenstreik, den wir nächstes Jahr durchführen wollen. Da ist eine Frau einfach glaubwürdiger.
Warum?
Dank meiner Beruf- und Lebenserfahrung weiss ich, was es für Frauen bedeutet, Mehrfachbelastungen unter einen Hut zu bringen. Zwar habe ich selbst keine Kinder. Aber ich habe lange in WGs mit Kindern gelebt und weiss, was es heisst, am Morgen Windeln zu wechseln, Zmorge zu bereiten und noch pünktlich bei der Arbeit zu sein.
Das Frauenthema wird nicht reichen an der SGB-Spitze. Womit wollen Sie noch punkten?
Meiner Meinung nach müssen wir ernsthaft über die 35-Stunden-Woche diskutieren. Stress und Druck setzen vielen Arbeitnehmern zu. Und seien wir ehrlich: Viele arbeiten heute länger als die offiziellen 40 bis 45 Stunden, checken ihre Mails nach Feierabend, sind immer erreichbar.
Die SP fordert bereits eine 35-Stunden-Woche. Hängen Sie sich da an?
Nein. Ich könnte mir gut eine Volksinitiative der Gewerkschaften dazu vorstellen. Für mich ist klar: Die Zeit ist reif. Denn im Zuge der Digitalisierung wird es Effizienzgewinne geben, die man für eine markante Arbeitszeitverkürzung auf eine 4-Tage-Woche nutzen sollte – was unter anderem die Vereinbarkeit von Beruf und Familie für Frauen und Männer verbessern würde.
Wie soll das finanziert werden?
Wenn man sich die Gewinne der Wirtschaft anschaut, ist es finanzierbar. Die Frage ist aber, wie die Gewinne verteilt werden. Ich finde, sie sollen auch denen zugutekommen, die dazu beitragen – den Angestellten. Eine 4-Tage-Woche würde auch den Firmen nützen: Denn ausgeruhte Mitarbeitende sind produktiver.
Aber nicht allen Branchen geht es so gut, dass sie das verkraften können.
Deshalb bräuchte es eine Steuer oder einen Ausgleichsfonds wie etwa bei den Familienzulagen. Nochmal: Die Frage ist nicht, ob wir uns das leisten können, sondern ob wir es wollen. Das will ich zumindest diskutieren. Ich entscheide ja nicht allein. Zudem will ich das Thema nutzen, um die Debattenkultur innerhalb der Gewerkschaften zu verbessern.
Warum betonen Sie das so?
Ich hatte in den letzten Wochen viele Kontakte mit der Basis. Was ich dort immer wieder gehört habe, ist, dass sie den Kontakt zur Verbandsspitze vermisst. Gerade bei der letzten Rentenreform und jetzt beim AHV-Steuer-Deal hatten viele Gewerkschafter den Eindruck, dass sie ihre Bedenken nicht einbringen konnten. Etwa die Gewerkschafterinnen, die bei der Frage des Rentenalters mitreden wollen. Gewerkschaften sind keine Ein-Mann- oder Eine-Frau-Show.
Ist das Kritik an der jetzigen Spitze um den starken Mann Paul Rechsteiner?
Paul Rechsteiner hat den SGB zu riesigen Erfolgen geführt. Das wird ihm hoch angerechnet. Aber wenn wir uns dafür einsetzen, dass Arbeitnehmende an ihrem Arbeitsplatz mehr Gehör finden, müssen wir diesen Anspruch selbst erfüllen. Daher will ich etwa die Frauen-, Migrations- und Rentnerkommissionen und die kantonalen Bünde besser einbinden. Es lohnt sich, diese Stimmen frühzeitig zu hören.
Den Gewerkschaften laufen die Leute davon. Wie wollen Sie das aufhalten?
Wir müssen uns erstens der Frauen annehmen, denn sie sind besonders schlecht organisiert. Zweitens liegt bei all jenen, die als Selbständige auf Projektbasis arbeiten, ein grosses Potenzial – das mit der Digitalisierung noch wachsen wird. Drittens scheint mir eine Solidaritätsabgabe aller Arbeitnehmenden an die Gewerkschaften sinnvoll.
Jeder soll die Gewerkschaften finanzieren – auch wenn er nicht Mitglied ist?
Im Gesamtarbeitsvertrag, dem GAV, ist das heute ja schon so. Jeder muss einen kleinen Teil vom Einkommen an die Gewerkschaft abgeben. Nur: 50 Prozent der Beschäftigten sind keinem GAV unterstellt. Vom Engagement der Gewerkschaften – dem Kampf um bessere Löhne und Arbeitsbedingungen – profitieren aber alle. Auch die, die nicht Mitglied sind. Da wäre es nur fair, wenn sie zumindest einen Solidaritätsbeitrag leisten.