Anwälte kritisieren einseitige Gutachter
Zwei Prozent zu gesund für die IV

Liegt der Invaliditätsgrad unter 40 Prozent, besteht kein Anspruch auf eine IV-Rente. Eine wichtige Rolle bei der Berechnung dieses Invaliditätsgrades spielen externe Gutachter. Diese geraten immer wieder in Verdacht, nicht unabhängig zu sein.
Publiziert: 11.08.2019 um 00:38 Uhr
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Nach Berechnungen der IV besteht für Mauro Russo kein Rentenanspruch.
Foto: Zvg
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Thomas SchlittlerWirtschaftsredaktor

Mauro Russo* (39) leidet an Multipler Sklerose (MS). Die IV kommt zum Schluss, dass er in seiner Erwerbstätigkeit als Lagermitarbeiter «zu 100 Prozent eingeschränkt» ist. In einer «angepassten, körperlich leichten, wechselbelastenden Tätigkeit mit Möglichkeit zur häufigen Blasenentleerung und kurzen Erholung» aber könne von einer 70-prozentigen Arbeitsfähigkeit ausgegangen werden.

Davon ausgehend berechnet die IV die Differenz seines früheren Einkommens ohne Behinderung zu seinem theoretischen Einkommen mit Behinderung. Sie beläuft sich auf 38 Prozent – demzufolge beträgt auch Russos Invaliditätsgrad 38 Prozent. Fazit der Behörden: «Da der Invaliditätsgrad unter 40 Prozent liegt, besteht kein Rentenanspruch.» Mit anderen Worten: Russo ist zwei Prozent zu gesund für die IV.

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Externe Gutachter spielen wichtige Rolle

Philippe Luchsinger (62), Präsident Haus- und Kinderärzte Schweiz, kritisiert diese Berechnungsweise: «Beträgt der von der IV berechnete Invaliditätsgrad weniger als 40 Prozent, dann erhalten die Betroffenen keinen Rappen. Dabei lässt es sich in der Praxis nicht exakt sagen, ob nun jemand zu 39 oder zu 40 Prozent erwerbsunfähig ist.» Für die Betroffenen habe diese Einschätzung aber gravierenden Einfluss auf ihr künftiges Leben.

Eine wichtige Rolle bei der Berechnung des Invaliditätsgrads spielen externe Gutachter. Diese geraten immer wieder in Verdacht, nicht unabhängig zu sein. Der Luzerner Versicherungsanwalt Christian Haag: «Einseitige IV-Gutachten sind für Versicherte die grösste Hürde vor dem Zugang zu Leistungen. Es gibt Gutachter, die fast immer zugunsten der IV urteilen – und fast ausschliesslich von der IV leben.»

Sein St. Galler Anwaltskollege Ronald Pedergnana geht einen Schritt weiter: «Die Korruption ist Teil des Systems. Das heisst: Gutachter, die im Sinne der IV ein Gutachten abfassen, kriegen wieder und massenhaft Aufträge. Andere werden nicht einmal berücksichtigt.»

Wirksame Aufsicht fehlt

Das Bundesamt für Sozialversicherungen widerspricht: «Bei schwierigeren Fällen braucht es meist eine medizinische Begutachtung durch Ärzte aus drei und mehr Fachdisziplinen. Diese polydisziplinären Gutachten werden nach dem Zufallsprinzip vergeben», sagt Sprecher Harald Sohns. Es sei also ausgeschlossen, dass eine Gutachterstelle aufgrund von angeblich IV-freundlichen Gutachten vermehrt zu Aufträgen komme.

Bei mono- und bidisziplinären Gutachten, die von den IV-Stellen direkt in Auftrag gegeben werden, könnten sich die Versicherten zur Wahl der Gutachter äussern und Bedenken anbringen. «Die IV-Stellen sind bemüht, sich in solchen Fällen mit den Versicherten zu einigen.»

Geschädigtenanwalt Haag kann über diese Aussage nur den Kopf schütteln: «Gegen einseitige Gutachter können sich Versicherte praktisch nicht wehren, ausser ein Gutachten ist nachweislich krass fehlerhaft. Die Gerichtspraxis gehe bis heute von der realitätsfremden Fiktion aus, diese finanziell von der IV abhängigen Gutachter würden neutral urteilen.» Eine wirksame Aufsicht über einseitige, IV-freundliche Gutachter fehle.

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