Wir sind Europameister im Zugfahren. Entsprechend stark befahren sind die Schweizer Gleise, viele Strecken sind überlastet. Die Zeche dafür zahlen Gleisarbeiter. Sie sorgen für den Unterhalt des Schienennetzes. Eine lebensgefährliche Aufgabe: Allein im letzten Jahr kamen fünf Arbeiter zu Tode.
Einer der tragischen Unfälle ereignet sich an einem Montag Ende Oktober. Am späten Abend arbeitet ein SBB-Angestellter (†56) auf einer Gleisbaustelle am Bahnhof Wald ZH. In der Dunkelheit will der Bauarbeiter das Gleis 2 überqueren – und wird von einem rückwärtsfahrenden Schienenbagger erfasst. Sofort fliegt ihn ein Rega-Helikopter ins Spital. Doch die Verletzungen wiegen zu schwer, der Arbeiter erliegt ihnen am Tag danach.
Ein trauriger Rekord
Fünf tote Gleisarbeiter in einem Jahr – das ist in jüngster Zeit Rekord: Zuletzt ereigneten sich 2015 zwei tödliche Arbeitsunfälle auf dem Schienennetz. Die genaue Ursache ist kaum herauszufinden, die Schweizerische Sicherheitsuntersuchungsstelle (Sust) schätzt, dass die Unfälle «auf individuelle Unachtsamkeit» zurückzuführen sind.
Liegt es wirklich nur daran? Urs Huber (57), Leiter Infrastruktur bei der Eisenbahnergewerkschaft (SEV), sieht auch die SBB in der Verantwortung. Weil diese ihren Infrastrukturbereich immer wieder umgestalten, würden Mitarbeiter herumgeschoben und müssten vermehrt neue Aufgaben übernehmen. «Das beeinträchtigt die Baustellensicherheit!», sagt er.
«Der Leistungsdruck wurde massiv erhöht»
Auch Bahnexperte Walter von Andrian, Chefredaktor der «Schweizer Eisenbahn-Revue», kritisiert die SBB-Umstrukturierungen. Diese würden sich negativen auf den Bahnbetrieb auswirken. «Eingespielte Prozesse wurden über den Haufen geworfen, und der Leistungsdruck wurde massiv erhöht!», sagt er. Dabei sei viel Fachwissen verloren gegangen.
Zudem: «Die SBB packen immer mehr Arbeit in immer kürzere Zeiträume.» Das liege daran, dass die nächtlichen Betriebspausen wegen des Fahrplanausbaus immer kürzer geworden seien. Die Folge: «Die Gleisarbeiter stehen unter grossem Zeitdruck.» Auch seien manchmal zu wenig Leute vorhanden, die Bauarbeiten würden vermehrt nicht rechtzeitig fertig, so von Andrian.
Planung oft schludrig
Umso wichtiger wäre eine seriöse Vorbereitung der Bauarbeiten. Doch oftmals werde schlecht geplant, ärgert sich Gewerkschafter Huber. Das sei auch kein Wunder bei allen Reorganisationen und dem dauernden Knowhow-Verlust. «Dann muss korrigiert und hinterhergeputzt werden. Die Sicherheit kann leiden.» Trotzdem müssen die Arbeiten fertig sein, wenn die Züge wieder rollen: «Also wird mit Arbeitszeiten jongliert und die Planung ad hoc über den Haufen geworfen», sagt Huber.
Daher arbeiten Gleisarbeiter oft länger als erlaubt. «Speziell private Gleisbaufirmen geben weniger Acht auf die gesetzlich vorgeschriebenen Ruhe- und Arbeitszeiten», sagt Huber. Das kann gefährlich werden, denn: «Zu arbeiten, während nebendran Züge vorbeirasseln, braucht höchste Konzentration.» Ein kleiner Fehler könne tödlich enden.
SBB: «Verstösse kommen vor»
Die SBB geben zu, dass das Arbeitszeitgesetz auf ihren Baustellen nicht immer eingehalten wird. «Verstösse kommen vor», räumt ein Mediensprecher auf Anfrage ein. Doch sie würden «konsequent geahndet». Die SBB hätten diesbezüglich eine «Nulltoleranzpolitik» – auch, wenn eine externe Firma die Arbeiten ausführt.
Allerdings: Private Gleisbaufirmen unterstehen, anders als das Bahnpersonal, nicht dem Arbeitszeitgesetz (AZG), sondern dem Arbeitsgesetz (ARG), wie das Bundesamt für Verkehr (BAV) bestätigt. Dieses ist nicht nur weniger streng, sondern steht auch nicht unter der Aufsicht des BAV. Und die SBB lagern immer mehr Arbeiten an Externe aus (siehe Box).
Die Infrastrukturabteilung der SBB lagern schon seit längerem einzelne Arbeiten an externe Firmen aus. Nun will die Bahn ganze Bauprojekte in fremde Hände geben. Bis 2025 sollen externe Baufirmen die alleinige Verantwortung für die Hälfte aller Schienenbaustellen innehaben. Ziel der Übung ist es, Kosten zu sparen.
Positiv auf die Sicherheit des Bahnbetriebs dürfte sich die Auslagerungs-Welle kaum auswirken. Denn schon jetzt, berichtet Bahnexperte Walter von Andrian, seien immer weniger SBB-Mitarbeiter für die Baustellensicherheit zuständig. Stattdessen bewachten vermehrt Externe die Baustellen und kommunizierten mit der Betriebszentrale. Für von Andrian ist dies problematisch: «Mindestens die Zusammenarbeit mit einem SBB-Mitarbeiter nach dem Vier-Augen-Prinzip würde der Sicherheit dienen.» Joel Probst
Die Infrastrukturabteilung der SBB lagern schon seit längerem einzelne Arbeiten an externe Firmen aus. Nun will die Bahn ganze Bauprojekte in fremde Hände geben. Bis 2025 sollen externe Baufirmen die alleinige Verantwortung für die Hälfte aller Schienenbaustellen innehaben. Ziel der Übung ist es, Kosten zu sparen.
Positiv auf die Sicherheit des Bahnbetriebs dürfte sich die Auslagerungs-Welle kaum auswirken. Denn schon jetzt, berichtet Bahnexperte Walter von Andrian, seien immer weniger SBB-Mitarbeiter für die Baustellensicherheit zuständig. Stattdessen bewachten vermehrt Externe die Baustellen und kommunizierten mit der Betriebszentrale. Für von Andrian ist dies problematisch: «Mindestens die Zusammenarbeit mit einem SBB-Mitarbeiter nach dem Vier-Augen-Prinzip würde der Sicherheit dienen.» Joel Probst
«Konzernspitze fehlt Wertschätzung für ihre Bauarbeiter!»
Die SBB weisen jegliche Kritik zurück: Bei den erfolgten Reorganisationen habe die Sicherheit stets an erster Stelle gestanden, betont ein Mediensprecher. Aber es gebe halt «Restrisiken», Arbeitsunfälle könnten «leider nie ganz ausgeschlossen werden». Man unternehme viel, um die Sicherheit der Arbeiter «bestmöglich zu gewährleisten». So seien die Arbeitsunfälle in den letzten zehn Jahren um durchschnittlich 2,8 Prozent reduziert worden.
Gewerkschafter Huber hält wenig davon. Für ihn ist augenscheinlich: «Der SBB-Konzernspitze fehlt die Wertschätzung für ihre Bauarbeiter!» Die Geschäftsleitung rund um CEO Andreas Meyer (58) habe den Draht zu ihren Bauarbeitern verloren: «Den SBB ist die Wirkung ihrer Reorganisationen an der Basis oft zu wenig bewusst.»
SBB reagiert wortkarg
Auf BLICK-Fragen nach den fünf tödlichen Unfällen reagieren die SBB äusserst wortkarg. Einzelheiten wollen sie für sich behalten, es gibt nur knappe Antworten. Stattdessen betont das Staatsunternehmen, dass «schwere Unfälle auf SBB-Baustellen von Fachspezialisten der SBB oder auch von der Schweizerischen Sicherheitsuntersuchungsstelle (Sust) überprüft» würden.
Doch das stimmt nur halb: Die Sust hat keinen der fünf tödlichen Unfälle unter die Lupe genommen. Weil erste Abklärungen «keine systemischen Mängel» ans Licht brachten, leitete sie keine Untersuchung ein. Die Ergebnisse der internen Untersuchungen rücken die SBB auf BLICK-Anfrage nicht heraus – «aus Gründen des Datenschutzes».
Es steht «verhältnismässig schlecht» um Gleissicherheit
Das BAV jedenfalls kommt zum Schluss, dass es im europäischen Vergleich schlecht um die Sicherheit unserer Gleisarbeiter steht. Das liege an den vielen Baustellen und daran, dass in der Schweiz teilweise bei laufendem Verkehr gebaut werde. Und es könnte noch schlimmer werden: Kürzlich beschloss der Nationalrat, 12,9 Milliarden Franken in den Ausbau des Schienennetzes zu investieren. Das bedeutet vor allem eines: noch mehr Baustellen. Und damit auch mehr Gefahr für Gleisarbeiter?
«Hoffentlich nicht», so das BAV, «denn das Risikobewusstsein, die Sicherheitsvorkehrungen und die Baustellensicherheit werden laufend besser.»