Paraplegiker-Pionier Guido A. Zäch (80)
«Mitleid hasse ich wie die Pest»

Im Interview erzählt Paraplegiker-Pionier Guido Alfons Zäch (80) über Schicksal, Sex von Querschnittgelähmten und sein Leben als Verurteilter.
Publiziert: 24.10.2015 um 12:52 Uhr
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Aktualisiert: 30.09.2018 um 19:42 Uhr
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Guido Alfons Zäch (80) ist der Vater der ganzheitlichen Rehabilitation von Querschnittsgelähmten.
Foto: Stefano Schröter
Interview: Peter Hossli Fotos: Stefano Schröter

BLICK: Herr Zäch, was kann ein Rollstuhlfahrer alles nicht tun?
Guido A. Zäch:
Es gibt keinerlei Grenzen. Der Mensch findet im Kopf statt – nicht in den Armen und Beinen.

Das sagt einer, der selbst nicht im Rollstuhl sitzt.
Tausendfach habe ich mitgelitten. Bei einer Querschnittslähmung sind ja nicht einfach die Beine weg, sondern das Empfinden im unteren Teil des Körpers. Ich helfe, mit dieser Situation umzugehen.

Als Fussgänger können Sie einem Rollstuhlfahrer gar nicht auf Augenhöhe begegnen.
Deshalb beuge ich stets ein Knie, wenn ich mit einem spreche.

Ein Kniefall ist ein schmaler Grat zwischen Mitleid und Respekt.
Mitleiden ja, aber ich hasse Mitleid wie die Pest. Niemand will bemitleidet werden.

Wie vermitteln Sie Respekt?
Eine Querschnittslähmung geht durch Mark und Bein. Das verändert einen Menschen völlig, er ist fortan in der Selbständigkeit stark eingeschränkt. Sogar beim Entleeren des Darms braucht er fremde Hilfe. Ich will ihm das Selbstwertgefühl zurückgeben.

Die Abhängigkeit ist unerträglich?
Der Patient darf sich nicht damit befassen, was er nicht mehr kann. Es geht nur noch darum, was möglich ist. Freier Wille und Charakter sind wie vorher. Der Mensch ist trotz Lähmung die gleiche Persönlichkeit.

Was sagen Sie einem, der das nicht akzeptiert?
Will einer auf der Intensivsta­tion sterben, sage ich ihm: «Geben Sie uns und sich einen Monat, dann können Sie frei entscheiden. Vielleicht lernen Sie bis dahin, damit zu leben.»

Wie viele Patienten wollen gehen?
Gleich nach dem Unfall denkt jeder Zehnte an Selbsttötung. Eine Lähmung ist ein Schock. Der führt zu Wut und depressiver Verstimmung. In dieser extremen Situation sehen viele nur drei Möglichkeiten: Flucht, Aggression oder Selbstzerstörung.

Wie viele haben sich getötet?
Direkt nach dem Unfall keiner. Es gab Bilanzselbstmorde. Solche, die jahrelang mit einer Tetraplegie lebten und dann gingen. Ein Ex-Rennfahrer feierte ein Fest. Da dachte ich, es gehe ihm gut. Am nächsten Tag war er tot. Die Suizidrate bei Querschnittsgelähmten ist wesentlich tiefer als der Durchschnitt.

Was sagen Sie einem 22-jährigen Mann nach dem Unfall, der seine Sexualität nicht mehr leben kann?
Es stimmt ja nicht, dass Sexualität nun nicht mehr möglich ist. Ein Penis kann durch Reflexe steif werden, eine Erektion erheblich sein. Er spürt im Penis zwar nichts, aber er kann ein ordentlich gutes Sexualleben haben mit einer gesunden Frau.

Die gesunde Frau empfindet etwas, der gelähmte Mann nicht?
Ja, aber er spürt Wange, Lippen, die Schultern, alle nicht gelähmten Teile behalten den Tastsinn.

Und bei einer gelähmten Frau?
Da ist das vaginale Lustempfinden ebenfalls weg. Aber sie spürt alle nicht gelähmten Stellen. Da Hormone die Eierstöcke und die Gebärmutter steuern, hat sie bald nach dem Unfall wieder eine normale Regel. Sie kann befruchtete Eizellen empfangen, sie austragen und gebären.

Kann ein Mann Kinder zeugen?
Frischverletzten nehmen wir Spermien ab und frieren sie ein. Bei vielen bleibt die Spermafunktion intakt. Es ist zudem möglich, mittels Hoden­biopsie Samen zu entnehmen. Auf diesem Weg haben wir Dutzende Kinder gezeugt.

Sie hatten vor fünfzig Jahren Ihre erste Stelle in der Unfallchirurgie. Was passierte mit Querschnitts­gelähmten damals?
Es war erschütternd. Patienten hatten Druckgeschwüre, weil man sie nicht alle drei Stunden drehte. Sie litten an Blasen­infekten, da es keine Blasenrehabilitation gab. Viele starben schnell an Lungenembolien.

Warum wehrten Sie sich nicht?
Als ich es tat, sagte mir mein Vorgesetzter: «Jetzt zahlt die Suva 1750 Franken für die Beerdigung. Lebt er, zahlt sie 300 000 Franken. Das will keiner.»

Was bewog Sie, etwas zu ändern?
Als 18-jähriger Bursche machte ich einen Kopfsprung in seichtes Wasser im Schwimmbad St. Gallen. Ich sah Sterne, hatte eine Stauchung an der Wirbelsäule – vor allem aber Glück. Ein kleiner Knick und ich wäre querschnittsgelähmt gewesen. Mein erster Patient war ein Mann, der nach dem Sprung in seichtes Wasser komplett gelähmt war.

Das hätten Sie sein können.
Genau. Da fragte ich mich: Welche Betreuung hätte ich gerne, wenn mir das passiert? Wie will ich behandelt werden? So entstand die ganzheitliche Pflege.

Waren Sie von der Angst getrieben, im Rollstuhl gefesselt zu sein?

Nein, von der Erkenntnis, dass dies jedem – also auch mir – passieren kann. Ich bin von hö­heren Mauern gefallen als manch gelähmter Pa­tient.

Sie haben 1,8 Millionen Gönner. Fürchten sich alle vor Lähmungen?
Ohne Angst zu verbreiten: Es gibt in der Schweiz jeden Tag neue Querschnittsgelähmte, pro Jahr sind es 400 bis 500.

Weil wir zu wild leben?
Selten führt Ausser­ordentliches zur Lähmung. Am häufigsten sind Verkehrsopfer und Sturzverletzungen.

Haben sich die Gründe in den letzten 40 Jahren verändert?
Früher stand auf vielen Pausenplätzen ein Trampolin. Als ich forderte, Schulen müssten ihre Versicherung von 10 000 Franken auf eine Million anheben, verschwanden sie. Leider kamen dann die Snowboards auf.

Sie waren Chefarzt in Basel und wollten dort die Paraplegie ausbauen. Warum lehnte Basel ab?
1974 lautete die Begründung: «Basel hat das Bedürfnis nach normalen Familien. Behinderte, Alte und Kranke hat es genug. Ihr Zuzug ist nicht zu fördern.»

Dann versuchten Sie es in Risch im Kanton Zug.
Der Gesundheitsdirektor sagte, kein Kanton der Schweiz werde mitmachen, ich würde nie das nötige Personal finden, keine Krankenkasse trage das, kein Spital werde bei mir Patienten einweisen. Was Zäch plant, ertrinkt als Bauruine im Zugersee.

Aber die Gemeinde war dafür?
Die Oberen von Risch wollten die «Gemeinde sauber, anständig und in Ordnung halten, solche Leute gehören nicht dazu».

Erst Nottwil im Kanton Luzern störte sich nicht an Rollstuhlfahrern?
Auf einen ersten Brief im März 1985 erhielt ich die Antwort: «Behinderte sind bei uns willkommen.» Per Applaus stimmte die Gemeindeversammlung zu.

Es ist Ihr Ziel, dass Paraplegiker ein normales Leben führen.
Falsch! Kein normales, sondern ein chancengleiches Leben.

Selbst das ist doch eine Illusion.
Die verlorene Mobilität kann man zurückholen. Ein Rollstuhlfahrer ist oft flinker als ein Fussgänger. Man kann einen Treppenlift einbauen. Ein Auto lässt sich so umbauen, dass auch ein Tetraplegiker selbständig fährt.

Aber ohne Arbeit ist ein Mensch nicht mehr ganz.
Ein Computerspezialist war nach einem Zeckenbiss vollständig gelähmt. Weder Augenlider noch Zunge konnte er bewegen. Vierzig Tage nach der Lähmung bewegte er Zunge und Lider wieder. Damit leitete er in Basel 70 Informatiker. Eine IV-Rente hat er nie bezogen.

Wie viele Querschnittsgelähmte können denn wieder arbeiten?
Etwa 70 Prozent. Die Schweiz ist da einmalig, nirgends schaffen es mehr zurück ins Berufsleben. 5000 Patienten habe ich berufstätig hergerichtet, sie brauchen keine IV-Rente. Was der Allgemeinheit jährlich 100 Millionen Franken spart.

Körperliche Zuneigung ist zentral für das Menschsein. Wie ändert sich das für eine Person, die ihren Körper nicht mehr ganz spürt?
Es braucht Anpassungen. Teile, die er noch spürt, sind hoch sensibel. Es geht darum, den Körper neu zu erfahren. Der Patient muss in sich hineinhören. Die volle Blase spürt er nun durch ein Kribbeln am Kinn oder einen Schweissausbruch. Nähe und Körperkontakt bleiben zentral.

Wie oft scheitert wegen einer Lähmung die Beziehung?
Leider gehen viele Ehen auseinander, weil die Rollen nun neu verteilt sind. Der Chef im Haus, der Geld heimbrachte, ist nun hilfsbedürftig und abhängig.

Und das hält der nicht aus?
Ehen scheitern, weil die behinderte Person keine Hilfe akzeptieren will. Ein würdevolles Leben ist aber nur möglich, wenn der Behinderte Hilfe annimmt.

Sind Männer und Frauen anders?
Männer sagen, sie können ihren Frauen lebenslange Pflege nicht zumuten. Behinderte Frauen sagen, sie können von ihren Männern nicht erwarten, dass sie ihre Chancen als Fussgänger nicht mehr wahrnehmen.

Was, wenn eine Liebe nach der Lähmung entsteht?
Das geht gut. Egal, ob beide gelähmt sind oder einer Fussgänger ist – solche Beziehungen halten jahrzehntelang. Alle kennen die Bedingungen. Zudem gibt es jene mit Helfersyndrom. Die rennen kopflos rein. So habe ich Dutzende Krankenschwestern, Ergo- und Physiotherapeutinnen verloren, die Patienten geheiratet haben.

Hatten Sie jemals eine Beziehung mit einer Patientin?
Nur Idioten jagen im eigenen Zoo. Weder mit Personal im Haus noch mit einer Patientin hatte ich jemals Intimverkehr.

Wie wichtig sind Sexworkerinnen?
Meine Patienten sind erwachsen, sie können tun, was sie wollen. Gestern hat sich bei mir einer verabschiedet, der nach Thailand geht. Dort kann er mit der IV-Rente zwei, drei Frauen beschäftigen, die sich Tag und Nacht um ihn kümmern.

Nottwil ist ein Erfolg. Warum?
Der Grundgedanke stimmt. Er lautet: Wir haben ein komplexes Problem, und das verlangt eine ganzheitliche Lösung. Alles ist unter einem Dach: Chirurgen, Mediziner, Pflegefachleute, Berater, Therapeuten, Mechaniker, Architekten – 80 Berufe. Wir waren die Ersten, die es so sahen.

Sie sind 80. Was trieb Sie 50 Jahre lang an?
Vermutlich habe ich Sinn gesucht. Es ist verdammt schwierig zu sagen, wann ein Leben sinnvoll ist, wann man befriedigt ist. Zudem bin ich neugierig.

Und Sie hielten sich nicht an Normen, machten, was Ihnen gefiel.
Das war wichtig. Der Faktor Zeit ist im Leben entscheidend. Ich wusste von Beginn weg, was ich wollte. Ich hatte das ganze Konzept der ganzheitlichen Rehabilitation stets im Kopf. Sukzessive habe ich es umgesetzt.

Ohne sich an Regeln zu halten?
Deshalb hatte ich Erfolg. Vierhundertmal im Jahr muss einer in seine Wohnung zurück, die vor dem Unfall nicht rollstuhlgängig war. Da kann ich nicht auf die Baubewilligung warten, sondern schicke Architekt, Ingenieur und Ergotherapeut vorbei. Keine Versicherung zahlt einen Spitaltag mehr, nur weil daheim noch nicht alles rollstuhlgerecht ist.

Für die Schweiz fehlt die Geduld?
Gorbatschow hat einst gesagt: «Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.» Ich meine: Wer zu früh kommt, den auch.

Sie hat das Leben bestraft?
Für die Schweiz gilt: Wer sich über die Norm erhebt, dem schlägt man den Kopf ab.

Erfolg blendet manchen. Auch Sie?
Nein, denn meine Arbeit war greifbar. Ich bin nie abgehoben, da ich immer auf der Höhe meiner Patienten war. Ich habe 80 Stunden gearbeitet, nie mehr als vier Stunden geschlafen.

Daneben haben Sie sieben Kinder. Woher nahmen Sie diese Energie?
Wenn ich von der Arbeit todmüde war, habe ich nicht geschlafen, sondern neue Herausforderungen gesucht.

Sie häuften Ämter an. Waren Chefarzt, Präsident der Stiftung, Präsident des Gönnervereins. Waren Sie grössenwahn­sinnig?
Es ging mir nie um die Macht, sondern um kurze Entscheidungswege. Dieses Haus wäre nie entstanden ohne dieses Prinzip. Bevor ich abgeben konnte, musste ich alles aufbauen.

Bis es zur Anklage kam, Sie hätten 62 Millionen Franken veruntreut.
Das zeigt ja den Unsinn der Anklage. Ich schwöre, ich habe nie einen Franken Stiftungsgelder veruntreut, ich habe Hunderttausende von Franken privat in die Stiftung gesteckt.

Was bedeutet Ihnen Geld?
Nichts, ich habe immer alles weitergegeben.

Warum kam es zur Anklage?
Weil Marc Suter zu früh mein Nachfolger werden wollte. Er hat mich verleumdet. Einer, dem ich vertraute und der Nachfolger werden sollte, hat mich ver­raten.

Und Sie konnten nicht loslassen?
Nein, denn ich wollte das Forschungszentrum fertigstellen. 2005 war es so weit.

Es kam zum Prozess. Wie viele Gönner hat Ihnen das gekostet?
Der Prozess hat uns schlagartig elf Millionen Franken an Spenden gebracht. Wann immer ich in den Medien an die Kasse kam, füllte sich unsere Kasse.

Dann war der Prozess ein Vorteil?
Nein, es war eine unerträgliche Schlammschlacht. Die Vorverurteilungen waren gewaltig. Die Richter konnten nicht anders. Einmal klingelte ­einer an der Tür, übergab meiner Frau einen Kalberstrick und sagte: «Geben Sie das Ihrem Mann, damit er sich aufhängen kann.»

Zuletzt sind Sie der Veruntreuung von knapp ­einer Million Franken schuldig gesprochen worden ...
Es hätte nie zur Anklage kommen dürfen, das sagen mittlerweile etliche namhafte Rechtsexperten. Trotz Fehlentscheid habe ich die Forderungen bis auf den letzten Rappen zurückbezahlt. Ich bin niemandem etwas schuldig geblieben.

Das Urteil ist für Sie eine Schmach: Wie überleben Sie das?
Ich habe ein gutes Gewissen, deshalb habe ich das überstanden. Ich kann jedem gerade in die Augen schauen. Ich habe nicht betrogen.

Figuren wie Sie oder Fifa-Chef Blatter haben es schwer in der Schweiz. Warum?
Weil die Schweiz nicht gerne Ausnahmeerscheinungen hat. Nach dem Prinzip: «Der muss nicht meinen ...» Oder: «Wenn da jeder käme ...»

Wie leben Sie damit, dass Ihr Lebenswerk einen Makel hat?
Der Makel liegt anderswo. Das Gericht hat recht erhalten, nicht das Recht. Mein Lebenswerk steht und dient vielen. Gelähmten sagte ich, es brauche zehn Jahre, um es zu verkraften. Meine Verurteilung liegt zehn Jahre zurück. Ich habe gelernt, damit zu leben, und habe ein Anrecht auf Vergessen.

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