So leiden Alleinerziehende im Lockdown
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Nichts von geteiltem Leid
So leiden Alleinerziehende im Lockdown

Alleinerziehende sind jetzt für ihre Kinder die einzigen erwachsenen Bezugspersonen. Drei Betroffene erzählen, was diese Herausforderung mit ihnen macht.
Publiziert: 02.05.2020 um 19:36 Uhr
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Aktualisiert: 03.05.2020 um 08:41 Uhr
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Henrika Bucheli ist alleinerziehende Mutter von drei Teenagern.
Foto: Nathalie Taiana
Dana Liechti und Karin A. Wenger

«Mein Körper kommt an seine Grenzen»

Henrika Bucheli (43) schätzt es, dass ihre drei Kinder jetzt auch mal freiwillig das Bad putzen.
Foto: Nathalie Taiana

Henrika Bucheli (43) hat drei Kinder im Alter von 16, 13 und 12 Jahren.

«Abschalten? Das kann ich im Moment nie. Ich arbeite, kaufe ein, koche, wasche, muss Papierkram erledigen, die Fragen meiner Kinder zum Schulstoff beantworten und schauen, dass sie noch etwas Bewegung ­haben.

Ich bin gelernte kauf­männische Angestellte, arbeite derzeit aber als Reinigungskraft.

Ich gehe um fünf Uhr morgens zur Arbeit, damit ich am Mittag bei den Kindern sein kann. Wecken tue ich sie mit einem Anruf. Die Arbeit liegen lassen kann ich nicht, ich bin auf Stundenlohnbasis an­gestellt. Zum Glück sind meine Kinder schon grösser und ich kann sie auch mal alleine lassen.

Trotzdem ist es stressig. Ich überlege schon bei der Arbeit, was ich zu Hause alles erledigen muss, und schreibe den Kindern, was sie fürs Zmittag vorbereiten sollen – Kartoffeln schälen zum Beispiel. Ich trage jetzt die ganze Last alleine, kann sie mit niemandem teilen. Ich kann niemanden kurz um ­Hilfe bitten oder um Rat fragen.

Normalerweise lebt mein Sohn im Internat, jetzt sind alle drei ­Kinder bei mir. Automatisch gibt es jetzt mehr Streit. Und ich bin immer die Böse. Wenn man einen Ehemann hat, kann man auch mal etwas abgeben, den Kindern sagen, sie sollen zum Vater gehen und ­einen kurz alleine lassen. Ich ­merke, dass mein Körper an seine Grenzen kommt.

Ich habe niemanden, der mich unterstützen könnte. Wir sind neu in der Nachbarschaft und kennen noch niemanden richtig gut. Und die Grosseltern fallen jetzt ja weg, genau wie die Lehrpersonen und die Trainer in den Vereinen, die den Kindern sonst Abwechslung bieten. Seit die Schulen zu sind, brauchen meine Kinder viel mehr von mir. Manche Lehrpersonen machen es einem noch schwerer als sonst.

Einmal sollte meine Tochter zum Beispiel eine Pyramide aus Draht und Klebeband basteln. Das habe ich aber beides nicht zu Hause. Dem Lehrer war das egal, er meinte, diese Dinge seien alltäglich. Das gilt vielleicht für einen Haushalt, in dem ein Mann lebt, der eine Werkstatt hat – aber nicht für mich als alleinerziehende Mutter! Und dann haben meine Kinder auch noch alle gleich­zeitig ihre Videokonferenzen mit der Schule – wir haben aber nur einen Laptop im Haus. Daran denkt ­niemand. Dieses fehlende Verständnis für die Situation von Alleinerziehenden macht mich wütend.

Trotz allem gebe ich nicht auf. Es gibt ja auch Lichtblicke: Die Kinder helfen mir zum Beispiel auch mal freiwillig und putzen das Bad. Auch wenn es danach vielleicht nicht perfekt sauber ist, schätze ich das sehr.»

«Was passiert mit den Kindern, wenn ich ins Spital muss?»

Patricia Steiner* (44) hat zwei Kinder. Ihr Sohn ist sechs, ihre Tochter vier Jahre alt.

«Unser Leben war schon vor Corona schwierig. Meine zwei Kinder und ich haben häusliche Gewalt erlebt. Mein Sohn leidet deshalb an extremen Ängsten, Panikattacken und Aggres­sionen. Er ist in Therapie und war eigentlich auf gutem Weg. Er hat angefangen, selbst auf die ­Toilette zu gehen und im eigenen Bett zu schlafen.

Momentan fällt die Therapie wegen Corona aber aus. Das ist für ihn ein grosser Rückschritt. Je länger er nicht in die Therapie kann, desto schlimmer werden auch wieder seine Ängste und Aggressionen. Das tut mir sehr weh als Mami.

Ich brauche ­gefühlt 20-mal mehr Kraft als vor der ­Corona-Krise und schlafe nicht mehr richtig, meistens nur zwei, drei Stunden pro Nacht. Auch weil mein Sohn ständig Alpträume hat. Er saugt alle schlechten Nachrichten auf und hat Angst vor dem Virus, will nicht mehr raus. Gleichzeitig fehlen ihm aber auch die Nachmittage auf dem Spielplatz und die sozialen Kontakte.

Normalerweise hütet eine gute Freundin die Kinder ab und zu. Das geht jetzt nicht mehr, weil sie zur Risikogruppe gehört. Ich bin als Mami jetzt noch viel mehr ­gefordert. Von morgens um 5 bis abends um 9 Uhr habe ich ­einen Fulltime-Job. Zeit für mich habe ich vielleicht eine Stunde am Tag. Das geht ans Lebendige.

Und dann kommen noch die finanziellen Sorgen dazu: Wegen eines Autounfalls kann ich im Moment nicht arbeiten und beziehe IV-Rente. Geld von meinem Ex-Mann bekomme ich keines. Darum müssen wir mit wenig auskommen. Normalerweise kann ich in Deutschland ein­kaufen gehen, so kommen wir über die Runden. Aber das geht wegen Corona auch nicht mehr. Je länger die Grenzen zu sind, desto schwieriger wird es. Ich mache mir Sorgen, dass das Geld nicht reicht. Meine eiserne Reserve ist bereits weg. Ich versuche jetzt, selbst mehr Gemüse anzubauen, um Geld zu sparen.

Wie es weitergeht, ist offen. ­Meine Tochter vermisst zwar die Spielgruppe. Trotzdem weiss ich nicht, ob ich sie am 11. Mai dort hinschicken werde. Was ist, wenn ich mich anstecke und ins Spital muss? Was passiert dann mit ­meinen Kindern? Das macht mir Angst.»

«Mein Chef hat angedroht, mir zu künden»

Der Chef von Sandra Hefti* hat kein Verständnis für ihre knapp zweijährige Tochter.
Foto: zVg

Sandra Hefti* (37) muss drei Tage pro Woche ins Büro, sie arbeitet als Buchhalterin in einem KMU. Der Chef hat wenig Verständnis für ihre bald zweijährige Tochter Mia* und die Situation als Alleinerziehende.

«Es ist zurzeit mega schwierig, dem Druck standzuhalten. Kurz vor der Corona-Krise stand in der Firma der Jahresabschluss an. Mia und ich wurden krank, ich kam mit den Aufträgen in Verzug. Im Geschäft hiess es, ich solle wieder arbeiten kommen, obwohl ich noch hustete.

Dann wurde auch noch Mias Vater krank, er hütet sie normalerweise regelmässig. Der Chef setzte mich unter Druck: Ich müsse Überstunden machen, um die Aufträge fertigzubringen. Er hat angedroht, mir sonst zu künden. Also musste ich Mia häufiger als üblich in die Kita geben, was mich mehr kostet.

Seit Mias Vater wieder gesund ist, passt er jetzt mehrmals die Woche auf sie auf. Ich habe es irgendwie geschafft, die meisten Pendenzen abzuarbeiten. Mein Chef sagte mir, er sei so weit zufrieden. Er kritisierte aber, dass ich unflexibel bin, Überstunden zu leisten. Verständnis für meine Situation als Alleinerziehende hat er überhaupt nicht gezeigt. Ich muss mich jetzt entscheiden zwischen einem reduzierten Pensum oder der Kündigung.

Normalerweise unterstützt mich mein Umfeld. Meine Mutter hütet Mia, wenn es eng wird. Sie legt mir manchmal die Wäsche zusammen, ihr Partner geht zwischendurch für mich einkaufen oder entsorgen. Das sind kleine Dinge, die mir Luft geben. Sie fallen jetzt weg, weil beide älter sind.

Mir fehlen die sozialen Kontakte. Dafür geniesse ich es umso mehr, dass ich die Kleine umarmen und knuddeln kann.»

«Ich will den Kindern nicht zeigen, wie sehr mich die Situation belastet»

Daniel Hubacher* (39) berät als Controller Geschäftskunden in der Finanzbranche. Seine Tochter ist elf-, der Sohn neunjährig. Mit seinen Kindern lebt er seit sechs Jahren alleine.

«Die Tage sind sehr lang. Ich beginne zwischen fünf und sechs Uhr im Homeoffice. So kann ich schon einige Stunden arbeiten, bevor die Kinder aufstehen. Sie erhalten von den Lehrern Aufgabenblätter, die sie selbstständig ausfüllen müssen. Es ist für sie schwierig, mehrere Stunden durchzuarbeiten. Sie haben ständig Fragen zum Schulstoff. Was ich im Büro normalerweise in vier Stunden erledige, dauert jetzt doppelt so lange. Ich kann den Kindern auch nicht immer direkt helfen, weil ich jeden Tag an mehreren Videokonferenzen teilnehme.

Was mir ein Rätsel ist: Wieso findet der Schulunterricht nicht per Video statt? Das sollte in einem Land wie der Schweiz wirklich kein Problem sein. In der Klasse meiner Kinder hat jeder einen Computer oder iPad zuhause. So könnte jedes in seinem Zimmer an den Schullektionen teilnehmen, das würde mich entlasten.

Am Mittag habe ich keine Pause, ich koche und wasche ab. Über den Haushalt sonst mag ich gar nicht reden. Ich muss bis am Abend arbeiten, um mit meinen Aufträgen fertig zu werden. Eingekauft oder Kleider gewaschen habe ich dann noch nicht. Ich versuche, an den Wochenenden nicht zu arbeiten und mit den Kindern zu spielen. An den Werktagen schaffe ich es kaum, mit ihnen rauszugehen.

Normalerweise hüten die Grosseltern die Kinder drei Tage pro Woche. Der Sohn geht zweimal zu einer Tagesmutter. Das fällt jetzt weg. Dass die Mutter zu ihnen schaut, ist nicht möglich. Ab nächster Woche bin ich für einige Aufträge des Geschäfts wieder ganztags ausser Haus. Ich kann doch nicht von einer Elfjährigen und einem Neunjährigen verlangen, dass sie zu sich selbst schauen. Wenn ich weg bin, werden sie kaum was für die Schule erledigen, da mache ich mir keine Illusionen. Ich bin froh, wenn die Schulen wieder öffnen.

Meine Batterien sind leer. Gleichzeitig muss ich stark sein vor den Kindern. Ich will ihnen nicht zeigen, wie sehr mich die Situation belastet, dass ich müde bin, nicht mehr mag. Ich mache mir Sorgen, dass die Wirtschaft bachab gehen wird. Doch ich kann solche Gedanken mit niemandem teilen, ich bin alleine. Meine Lebenspartnerin wohnt in Frankreich, ich habe sie seit Wochen nicht gesehen.

Abends lege ich mich halbtot ins Bett. Das ist das einzig Positive: Ich schlafe so gut wie schon lange nicht mehr.»

«Wenn die Kinder im Bett sind, arbeite ich weiter»

Stephanie Uldry (32) versucht, jeden Tag mit den Kindern raus zu gehen.
Foto: zVg

Stephanie Uldry (32) aus Meierskappel arbeitet drei Tage pro Woche. Ihr Sohn (8) besucht die zweite Klasse, ihre Tochter (5) den Kindergarten.

«Ich habe im Moment grosse Augenringe. Ich stehe vor den Kindern auf, um morgens bereits eine Stunde im Homeoffice arbeiten zu können. Am Vormittag kann sich meine Tochter zum Glück recht gut selbst beschäftigen, und mein Sohn erledigt die Hausaufgaben. Vor den Ferien bezogen sich die Übungen nur auf Schulstoff, den er schon kannte.

Dann erhielt ich eine E-Mail, dass er nach den Ferien neuen Stoff erarbeiten müsse. Und dass ich ihm pro Tag zwei bis drei Stunden dabei helfen soll. Ich begann zu weinen und dachte: Nicht das auch noch! Ich bin wirklich froh, wenn sie wieder in die Schule können.

An meinen freien Tagen erledige ich den Haushalt, gehe einkaufen. Es ist stressig, aber mit guter Planung machbar. Ich koche grosse Portionen vor, dann essen wir drei Tage lang Spaghetti Bolognese. Das ist zwar monoton, erspart mir aber viel Aufwand. Ich versuche, jeden Tag mit den Kindern raus zu gehen. Was mir sehr fehlt, ist Zeit für mich alleine.

Nachdem die Kinder im Bett sind, arbeite ich weiter. Manchmal wird es spät, das ist anstrengend. Mein Arbeitgeber ist da zum Glück sehr flexibel.»

«Die Corona-Krise ist eine Chance, meine Kinder besser kennenzulernen»

Das Chaos im Kinderzimmer nimmt die alleinerziehende Mutter Manuela Keller* (33) gelassen.
Foto: zVg

Manuela Keller* (33) arbeitet schon lange von zu Hause aus. Sie hat drei Söhne im Alter von fünf, acht und neun Jahren.

«Als ich hörte, dass die Schulen schliessen, dachte ich: Mist, wie mache ich das? Mittlerweile bin ich aber positiv überrascht, ich habe es schlimmer erwartet. Aber man schraubt auch die eigenen Anforderungen zurück. Dann ist halt der Wäschekorb überfüllt oder es herrscht ein Chaos in der Wohnung, ich nehme das easy.

Ich bin zuständig für die Geschäftsstelle eines Unternehmens und berate oft Kunden. Am Vormittag setze ich mich mit dem Telefon an denselben Tisch, an dem die Kinder Hausaufgaben erledigen. Sie kennen es von der Zeit vor Corona: Wenn das Mami telefoniert, dann sind sie ruhig.

Am Sonntag musste ich raus, ich wollte alleine laufen gehen. Also liess ich sie einen Film schauen. Das dürfen sie nur sehr selten, da bin ich ziemlich streng. Sie spielen oft draussen. Ich stelle es mir schrecklich vor, wenn wir keinen Garten hätten. Ich weiss, dass das ein Luxus ist.

Klar gibt es Momente, in denen ich denke: Ich kann nicht mehr. Manchmal am Abend, wenn ich in Ruhe im Garten sitze, fliessen die Tränen. Aber das gab es als Alleinerziehende auch vor Corona. Ich muss alles alleine machen, durchhalten, kann niemandem sagen: Bitte schau du für einen Moment.

Grundsätzlich sehe ich die Corona-Krise als Chance, meine Kinder besser kennenzulernen. Es ist wie eine Bonuszeit, wir unternehmen viel zusammen. Ich hoffe, andere Eltern können das auch so sehen.»

*Namen der Redaktion bekannt

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