Ein Gedanke verfolgt C.* bis heute: Was, wenn ihr zweijähriger Sohn an jenem Tag im Hochsommer im Kinderwagen gesessen hätte? Es geschah Ende Juli 2016. Die Somalierin parkiert ihr Auto in einer Seitenstrasse der Genfer Innenstadt. Wie jeden Morgen lädt sie den Kinderwagen aus dem Kofferraum.
Als sie ihren Sohn vom Rücksitz holen will, rast von hinten ein Auto heran, überrollt den Wagen. Der Fahrer steigt aus und schreit: «Verschwinden Sie, Drecksnegerin!» Und: «Ich werde Ihnen die Kehle durchschneiden!» Eine Passantin kann im letzten Moment verhindern, dass der Mann auf C. losgeht.
Enthemmte Fremdenfeinde
Rassismus ist kein neues Phänomen. Doch die Übergriffe erfolgen – wie derjenige in Genf – immer häufiger in der Öffentlichkeit. Auf der Strasse, im Bus, am Arbeitsplatz. Ein noch unveröffentlichter Bericht der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) und des Vereins Humanrights.ch zeigt: Fremdenfeinde verlieren die Hemmungen und versuchen oft gar nicht mehr, ihre Taten zu verstecken.
Bund zählte 200 rassistische Attacken
Im vergangenen Jahr mussten die 26 Schweizer Rassismusstellen 200 Diskriminierungsopfer beraten. Das sind zwar etwas weniger als 2015. Damals registrierte die Rassismuskommission 240 Fälle. EKR-Präsidentin Martine Brunschwig Graf sagt aber: «Die Zahlen widerspiegeln nur einen kleinen Anteil des Problems. Die Dunkelziffer liegt wohl viel höher.»
Ein Grossteil der Diskriminierungen traf im letzten Jahr Schwarze. Sie waren in 70 Fällen betroffen. 48 Mal richteten sich die Übergriffe gegen Muslime und Menschen aus dem arabischen Raum, sechs Mal gegen Juden. Meist blieb es bei Drohungen und Beschimpfungen. In 23 Fällen war aber auch körperliche Gewalt im Spiel. So wie am 11. Juli 2016 in Chiasso TI, als 15 schwarz gekleidete Männer auf eine Gruppe junger Asylsuchender losgingen.
«Diskriminierung wird salonfähig»
Sorgen macht den Verfassern des Berichts vor allem, dass die Täter ihren Hass nicht mehr verheimlichen. Die Hetze verlagert sich vom privaten Rahmen in die Öffentlichkeit. Der Anteil an Diskriminierungen vor Zeugen am Arbeitsplatz, in der Schule oder auf der Strasse ist deutlich gestiegen. Mittlerweile fallen die meisten Beratungen in die von der EKR definierten Lebensbereiche Öffentlichkeit, Privatwirtschaft und Organisationen (siehe Grafik).
Alex Sutter von Humanrights.ch sagt: «Rassistische Diskriminierung wird salonfähig. Die Hemmschwellen für Beschimpfungen und Übergriffe sinken.» In sozialen Medien im Internet würde der Hass schon lange schwelen. Das habe viele Leute abgestumpft. Die Folge davon: «Jetzt schwappt der alltägliche Online-Rassismus in die reale Welt über.»
Schuldige macht Sutter in der etablierten Politik aus: «Wenn sogar der US-Präsident öffentlich gegen Minderheiten hetzt, dann schwindet auch beim kleinen Mann auf der Strasse die Zurückhaltung.»
EKR-Präsidentin fordert besseren Opferschutz
Brunschwig Graf nimmt die Politiker in die Pflicht. «Verbale Entgleisungen gegen Menschen mit fremder Herkunft, Religion oder Hautfarbe leisten einem feindlichen Klima Vorschub», sagt sie. Das führe dazu, dass Vorurteile zementiert würden und die Zahl rassistischer Akte zunehme.
Um den Negativtrend zu stoppen, müsse weiter in die Prävention investiert werden. Die Rassismus-Beratungsstellen würden dabei eine zentrale Rolle einnehmen: «Wir müssen die Gesellschaft für die Thematik sensibilisieren.»
Zudem fordert die EKR-Präsidentin einen besseren Opferschutz: «Der gesetzliche Schutz vor Diskriminierung ist in der Schweiz ungenügend.» Die Möglichkeiten, sich gegen xenophobe Anfeindungen zu wehren, seien zu beschränkt.
Die engen Grenzen der Justiz musste auch die in Genf angegriffene Somalierin C. spüren. Vor kurzer Zeit hat die Polizei die Ermittlungen in ihrem Fall eingestellt – angeblich aus Mangel an Beweisen.
* Name der Redaktion bekannt