Die Flucht von Europas meistgesuchtem Terroristen endete in der Nacht auf Freitag in Sesto San Giovanni im Norden von Mailand (I). Der junge Polizist Luca Scatà (29) erschoss den Tunesier Anis Amri (†24), den mutmasslichen Täter des Lastwagen-Attentats auf den Berliner Weihnachtsmarkt bei der Gedächtniskirche. Zwölf Menschen starben, Dutzende wurden verletzt, viele von ihnen sind immer noch in kritischem Zustand.
Dass Amri den deutschen Behörden als gewaltbereiter «Gefährder» bekannt war, also als potenzieller Dschihadist, der nicht vor terroristischen Aktionen zurückschreckt, hatte ihn offenbar nicht im Geringsten behindert. Immer fiel er durch die Maschen der Ermittler. Zwar wurde er wochenlang rund um die Uhr überwacht. Im September 2016 sahen die Beamten wieder davon ab – wohl auch aus Kapazitätsgründen. Deutschlandweit zählt der Bundesverfassungsschutz zurzeit 550 Gefährder.
Wie Amri von Italien – wo er wegen diverser Delikte vorbestraft und auch inhaftiert war – nach Deutschland gelangte, ist nach wie vor unklar. Dass er auf dem Weg nach Norden durch die Schweiz reiste, wie seine Mutter behauptete, ist nicht bestätigt.
Berlin-Attentäter wollte nach Zürich
Sicher hingegen ist, dass Amri mindestens einmal versuchte, in die Schweiz zu reisen. Im Juli blieb er laut der Zeitung «Südkurier» bei einer Routinekontrolle hängen. Die deutsche Bundespolizei hatte in Friedrichshafen den jungen Mann mit zwei gefälschten Ausweispapieren festgenommen. Er sass in einem grünen Flixbus auf dem Weg nach Zürich! Bei der genaueren Überprüfung stellte sich heraus: Es war Anis Amri.
Die deutschen Polizisten liessen den Mann unbehelligt wieder laufen. Offen bleibt, was der spätere Attentäter von Berlin in der Schweiz wollte. Und, ob er allenfalls Kontakt zu Gesinnungsfreunden suchte oder sogar hatte.
Eindeutig belegt ist, dass die gewaltbereite Dschihadistenszene in der Schweiz Verbindungen zur IS-Unterstützerszene in Deutschland unterhält, wie Johannes Saal (29) von der Universität Luzern sagt. Der Islamismusexperte kennt die Militanten und ihre Protagonisten. Er sagt: «Anis Amri stand in engem Kontakt mit IS-Prediger Abu Walaa (32), der wiederum bedankte sich schon öffentlich für Spenden aus der Schweiz.»
Saal schliesst nicht aus, dass die Dschihadisten-Hotspots in Winterthur ZH und Basel in Kontakt mit IS-Prediger Walaa stehen. Der erst im Oktober verhaftete Prediger rekrutierte vom deutschen Hildesheim aus für den IS.
In einem Post, der SonntagsBlick vorliegt, schrieb ein Anhänger von Abu Walaa an seine Gesinnungsgenossen in der Hildesheimer Moschee: «Die Brüder aus der Schweiz haben sich gemeldet. Sie werden Inschalla (So Gott will; Red.) auch Geld sammeln und es schicken. Wenn irgendetwas gebraucht wird, werden wir da hin fahren.» Schliesslich liege die Schweiz nur eine Autostunde entfernt.
Gewaltbereite Islamisten in der Schweiz
Islamistische Gruppierungen hierzulande verzeichnen massiven Zulauf. Während der Dschihad-Tourismus aus der Schweiz nach Syrien oder in den Irak allmählich zurückgeht, nimmt die Zahl von Gefährdern wie Anis Amri dramatisch zu.
Zählte der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) 2014 noch 290 Personen zur gewaltbereiten dschihadistischen Szene in der Schweiz, hat sich ihre Zahl inzwischen fast verdoppelt: «Ende Oktober 2016 zählten wir 480 solcher Personen», sagt Carolina Bohren vom NDB zu SonntagsBlick. Es sind Muslime, die der Ideologie des Islamischen Staats (IS) oder der Al-Kaida-nahen Al-Nusra-Front zuzuordnen sind. Ihr Ziel ist die gewaltsame Durchsetzung einer islamischen Ordnung in Europa.
Innerhalb der Schweiz oder aus der Schweiz heraus verbreiten sie über das Internet dschihadistisches Gedankengut und vernetzen sich mit Gleichgesinnten im In- und Ausland. Vor allem psychisch instabile, orientierungslose Jugendliche mit ungewisser Zukunftsperspektive fühlten sich von dieser Propaganda angesprochen und liessen sich von dschihadistischen Gruppierungen beeinflussen, erklärt Bohren. So wie im Fall von Ahmed J.* (26): Der junge Familienvater war der erste Islamist, den die Polizei vor seiner Abreise in den Dschihad nach Syrien am Flughafen Zürich abfangen und verhaften konnte.
14 Tage lang sass J. in Haft, anschliessend wurde er unter strengen Auflagen wieder entlassen. Polizisten überwachen seither jeden seiner Schritte – eine Herkulesaufgabe, die nicht immer klappt, wie der Fall des Attentäters vom Berliner Weihnachtsmarkt vor Augen führte.
Die ungehinderte Flucht Amris durch Deutschland und Frankreich bis nach Italien zeigt: Offenbar bewegen sich Dschihadisten in Europa mühelos unter dem Radar der Behörden.
*Name der Redaktion bekannt