Zwanzig Autorinnen, darunter Verena Stössinger und die Lyrikerin Julia Rüegger lesen Lore Bergers 1944 posthum publizierten Roman «Der barmherzige Hügel. Eine Geschichte gegen Thomas». Es ist Bergers einziger Roman.
Bis heute ist im Wikipedia-Artikel über sie zu lesen, es sei zu vermuten, «dass der Roman nur wegen Bergers Suizid und den Parallelen im Roman 1944 veröffentlicht wurde». Dieser Auffassung widersprechen die Autorinnen der folgenden Generationen mit ihrer Lesung «Eine Gegengeschichte» beim Wasserturm auf dem Bruderholz in Basel. Dort hatte sich Berger am 13. August 1943 das Leben genommen.
«Vorher hatte ich nie von ihr oder ihrem Buch gehört»
Eine der Lesenden ist Verena Stössinger. Die gebürtige Luzernerin ist dreissig Jahre jünger als Berger. Zur Neuausgabe von «Der barmherzige Hügel» (1981) hat sie im Auftrag der Basler Zeitung eine Kritik geschrieben. «Vorher hatte ich nie von ihr oder ihrem Buch gehört», sagt die Autorin, Lektorin und Kulturjournalistin gegenüber Keystone-SDA. «Obwohl der Text schon 37 Jahre alt war, kam mir vieles daran 'zeitlos' vor (wie ich schrieb): Dass der Widerspruch zwischen Wünschen, Bedürfnissen und Möglichkeiten defensiv und zerstörerisch über den Körper ausgetragen wird. Und die zähe Tradition von Geschlechterbildern.
Auch für die Lyrikerin Julia Rüegger ist «Der barmherzige Hügel» 80 Jahre später nach wie vor relevant: «Der Roman vereint so vieles: scharfsinnige Milieustudien, Zustandsbeschreibungen der eigenen emotionalen Verfassung, Zeitporträt, eine leidenschaftliche Lust zu lieben und zu leben, aber auch Schmerz und den Sog des Abgründigen.» Die gebürtige Baslerin Rüegger gehört mit Jahrgang 1994 zu einer jungen Generation Schweizer Autorinnen. Auch sie hatte bis zur Anfrage für die Marathonlesung noch nie von Berger oder ihrem Roman gehört.
Weiblichen Literaturkanon hochhalten
Bergers Protagonistin Esther schreibt «Eine Geschichte gegen Thomas», eine Geschichte gegen eine Sehnsuchtsfigur, die Parallelen aufweist zu einer Bekanntschaft der realen Lore Berger. Esther erzählt von einer Liebe, von glücklichen Momenten, Betrug und Kummer.
Aber der Roman geht weit darüber hinaus: Vielschichtig skizziert die Autorin die Einsamkeit, die (Todes-)Sehnsüchte und die Langeweile ihrer Figur Esther, die wohl behütet in einem bürgerlichen Milieu ihre Umwelt beobachtet.
Sie zerbricht an beruflichen, familiären und gesellschaftlichen Erwartungen, und insbesondere an der Erfahrung «von der minderen Bedeutung, die Frauen und ihren Aktivitäten in der Gesellschaft eingeräumt werden: Man müsste, um in den bestehenden Verhältnissen zu gedeihen, keine Frau sein. Ich bin aber eine Frau», so Esther.
Diesen Romantext setzt die Marathonlesung dem abschätzigen Wikipedia-Kommentar entgegen. «Den Roman heute wieder zu erinnern», darum geht es Verena Stössinger. «Ihn hereinzuholen in die Schweizer Literatur. Denn dass Autorinnen und ihre Werke nicht den Platz haben, der ihnen gebührt, ist wohl unbestritten.» Deshalb ist es auch für Julia Rüegger eine Ehrensache, Lore Berger ihre Stimme zu geben. «Basler Autorinnen unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Prägung kommen zusammen, um einen weiblichen Literaturkanon über die Generationen hinweg hochzuhalten.»*
*Dieser Text von Philine Erni, Keystone-SDA, wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert. (SDA)