Anstatt es direkt im Müll zu entsorgen, hat Sems Sera Leisinger (61) ihr Haar gesammelt – und das über 22 Jahre! Rund 1,5 Kilogramm reines Menschenhaar kamen so über die Jahre zusammen. Genug, um ihre Badewanne bis zur Hälfte zu füllen.
«Ich brachte es nicht über mich, es wegzuwerfen», sagt Leisinger zu BLICK. «Haare sind doch ein Wunder der Natur!» Darum habe sie die Haarreste früher auch immer aus dem Fenster ihres Hauses am Waldrand geworfen. «Um sie der Natur zurückzugeben», wie sie weiter erzählt.
«Cilgesu», das Mädchen mit den vierzig Zöpfen
Dabei beobachtete Leisinger, dass die Vögel ihr Haar als Baumaterial für ihre Nester benutzten. «Ich fand es toll, dass sie so wieder Verwendung fanden», sagt die Unternehmensberaterin. Schon als kleines Kind in Anatolien wurde sei wegen ihrer dichten schwarzen Locken «Cilgesu» genannt – «das Mädchen mit den vierzig Zöpfen».
1995 zog Leisinger weg vom Waldrand. Deshalb warf sie ihre Haare nicht mehr einfach so aus dem Fenster. Sie fing an, die Büschel in einem alten Kissenbezug zu sammeln. Wofür genau wusste sie damals noch nicht.
Spinnerin auf Weihnachtsmarkt getroffen
Erst Jahre später hatte Leisinger plötzlich eine Idee: «Ich habe zufällig eine Wollspinnerin kennengelernt und sie ganz spontan gefragt, ob sie auch mit Menschenhaar arbeiten könnte», erzählt die 61-Jährige.
Nach kurzem Zögern liess sich die Spinnerin für das haarige Unterfangen einspannen und wagte einen Versuch. Und tatsächlich, es funktionierte. Nur wenige Woche später hielt Sera Leisinger etwas mehr als ein Kilogramm ihres persönlichen Garns in den Händen.
«Das Thema liegt mir persönlich sehr am Herzen»
Also begann die begeisterte Strickerin, ihre Haare zu einer Kinderjacke zu verarbeiten. «Sie soll eine Schuluniform symbolisieren.» So will die Frau Kinder ohne Zugang zu Bildung thematisieren. «Das liegt mir persönlich sehr am Herzen», sagt Leisinger. Denn: «Wenn wir eine bessere Welt wollen, müssen wir uns für die Bildung von Mädchen und Jungen einsetzen!»
Sie selbst habe grosses Glück gehabt, dass in der Türkei während ihrer Kindheit schon die Schulpflicht für alle galt. «In der Schule habe ich mich frei gefühlt, und die Ausbildung hat mir die Möglichkeit gegeben, ein besseres Leben zu führen.»
Darum ist sie auch besonders stolz darauf, dass sie vom Friedenspark in Hamm (D) zur Patin von Malala Yousafzai (21) ernannt wurde. Die Pakistanerin wurde 2012 bei einem Überfall der Taliban auf ihre Mädchenschule schwer verletzt und setzt sich seither weltweit für die Bildung von Mädchen ein. Im Jahr 2014 wurde ihr dafür der Friedensnobelpreis verliehen.
«Ich würde sie am liebsten einem Museum übergeben»
Was mit der Strickjacke weiter geschieht, ist noch offen. «Ich würde sie am liebsten einem Museum übergeben, damit sie ausgestellt wird», sagt Leisinger. Damit sie möglichst viele Menschen erreichen und zum Nachdenken bringen könne.
Die Jacke soll auch nicht das einzige Kleidungsstück aus Sera Leisingers Haar bleiben. Eine Wintermütze hat sie mittlerweile ebenfalls fertiggestrickt. Und seit kurzem arbeitet sie an einem Schal. Sie hat genug für eine ganze Kollektion: «Es gibt ja jeden Tag genügend neues Material.» (krj)