Margaret Atwood veröffentlicht die Fortsetzung ihres Welterfolgs «The Handmaid's Tale»
Die Prophetin, die keine sein will

In der englischsprachigen Welt geht nächste Woche das grösste literarische Ereignis des Jahres über die Bühne: Die kanadische Autorin Margaret Atwood (79) veröffentlicht mit «Die Zeuginnen» die Fortsetzung ihres Welterfolgs «The 
Handmaid’s Tale».
Publiziert: 07.09.2019 um 14:27 Uhr
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Aktualisiert: 08.09.2019 um 17:14 Uhr
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Der langersehnte Roman von Margaret Atwood: «Die Zeuginnen».
Silvia Tschui

Haben Sie schon einmal von Margaret Atwood gehört? Wahrscheinlich nicht. Dabei gilt die kanadische ­Autorin im englischsprachigen Raum als eine der visionärsten und intelligentesten Stimmen unserer Zeit.

Die Tochter eines Insektenforschers und einer Ernährungswissenschaftlerin zählt schon seit dem ­Erscheinen ihres Erstlingsromans «Die essbare Frau» zu den ­talentiertesten Autorinnen Kanadas. Doch erst seit jüngster Zeit verehren viele englisch­­spra­chige Erwach­sene sie etwa so, wie Kinder dies mit der «Harry Potter»-Autorin J. K. Rowling taten.

Ihr nächste Woche erscheinendes Buch «Die Zeuginnen» zelebrieren englische Buchläden etwa mit einer Mitternachts-Feier. Viele Fachgeschäfte öffnen in der Nacht vor Erscheinungsdatum, also vom 9. auf den 10. September. Zu Hunderten werden Fans stundenlang an­stehen und dabei teilweise in rote Roben mit weissen Hauben gekleidet sein.

Die Serie verleiht Buch und Autorin endgültig Heldenstatus

Die roten Roben wie auch der neue personenkultartige Ruhm stammen von der seit 2017 ausgestrahlten, dreiteiligen TV-Serie «The Hand-maid’s Tale» («Der Report der Magd») – hierzulande viel zu wenig beachtet, weil es nur auf dem Streaming-Portal EntertainTV der Telekom zu sehen war. Die mit diversen Emmys und Golden-Globe-Preisen ausgezeichnete Dystopie basiert auf dem gleichnamigen Atwood-Roman von 1984.

Die Serie und damit erneut auch der Roman haben eine breite gesellschaftliche Resonanz gefunden: Beide beschreiben eine US-Gesellschaft, in welcher die meisten Frauen wegen Anschlägen mit Atomwaffen, Umweltgiften und antibiotikaresistenten, sexuell übertragbaren Krankheiten unfruchtbar geworden sind.

Die roten Roben sind die offizielle Tracht, welche die wenigen noch existierenden fruchtbaren Frauen tragen müssen. Sie leben in einem totalitären Staat namens Gilead – den ehemaligen Vereinigten Staaten, welche nach einem Staatsstreich von ultrareligiösen Konservativen in eine strenge Klassengesellschaft umgewandelt wurden.

In der Fortsetzung sprechen die Zeuginnen

Diese zwingt fruchtbare Frauen in den Besitz von Oberklasse-Männern. Sie müssen auch deren Namen annehmen, die Hauptfigur ist eine «Frau des Fred», heisst also Desfred. Wie alle fruchtbaren Frauen, wird sie rituell vergewaltigt, um schwanger zu werden, die Kinder werden ihnen weggenommen. ­Haben sie ihren Zweck erfüllt, kommen sie in Arbeitslager.

Der Roman und die Serie, ­deren dritter Teil noch läuft, beschreiben ein perfides, ausweg­loses System so, dass einem der Hals eng wird. Was mit Desfred passiert, bleibt am Ende des Romans offen – sie wird von einer Art Geheimpolizei ab­geholt.

«Die Zeuginnen» setzt da an, wo der «Report der Magd» aufhört: Als Desfred in einen Lieferwagen geworfen wird und sich die Türen hinter ihr schliessen. Nur so viel ist über die Fortsetzung bekannt: Drei Zeuginnen aus dem Schreckensstaat Gilead werden im Buch zu Wort kommen.

Wenn Männer über Frauenrechte bestimmen

Zwei reale aktuelle gesellschaft­liche Entwicklungen haben der ­Serie ihr Kultpotenzial verliehen: Zum ­einen haben Anfang dieses Jahres ­einige tiefkonservative US-Bundesstaaten wie Alabama, Kentucky oder Mississipi die Rechte von Frauen, über ihren eigenen Körper zu bestimmen, drastisch beschnitten: Abtreibungen wurden kriminalisiert – auch wenn der Grund für eine ungewollte Schwangerschaft eine Vergewaltigung oder, man stelle sich vor, Inzest (!) ist.

Im republikanischen Alabama beschlossen dies fast ­ausschliesslich männliche Ratsmitglieder. Gleichzeitig erschweren ­diese Staaten Frauen den Zugang zu Geburtskontrolle und Verhütungsmitteln und ahnden Vergewaltigungen kaum – es handelt sich um reale, Gilead-ähnliche Zustände.

Die roten Roben wurden zum Gewand der Aktivistinnen

Der zweite Grund: Die erste Staffel von «The Handmaid’s Tale» erschien genau zu dem Zeitpunkt, als die unzähligen Vergewaltigungen von jungen Schauspielerinnen aufflogen, mit denen der US-Filmproduzent Harvey Weinstein jahrzehntelang weggekommen war. In der Folge lenkte die MeToo-Bewegung die öffentliche Aufmerksamkeit auf die unfaire, sexistische Behandlung von Frauen in der Arbeitswelt.

Seither tragen Aktivistinnen die roten Roben bei Demonstra­tionen, um gegen konservative Politiker zu protestieren, die Frauenrechte missachten und beschneiden wollen – so etwa in W ashington bei der Berufung des mit diversen Frauenbelästigungs-Vorwürfen konfrontierten Brett Kavanaugh zum Obersten US-Gerichtshof durch Donald Trump. Oder in England, ­Irland und Argentinien beim Trump-Besuch wie auch vor dem Parlament im australischen Brisbane, um für die Legalisierung von Abtreibungen zu demonstrieren.

Atwood ist die Prophetin, die keine sein will

Die Serie hat dazu geführt, dass ­Atwood in den Medien regelmässig als Prophetin dargestellt wird – ein Begriff, den sie selbst vehement ablehnt. Sie denke nur weiter, was bereits Realität sei auf dieser Welt: «Es gibt für alles im Buch ­einen Präzedenzfall. Ich habe mich dazu entschieden, nichts zu verwenden, das nicht irgendwo auf dieser Welt Realität war oder ist.»

So sei nur schon der Titel des ­Romans Wirklichkeit – es gäbe eine amerikanische Sekte, die ihre Ehefrauen tatsächlich «Handmaids» («Magd» oder «Kammerjungfer») nennen. Auch in der jetzt erscheinenden, lang erwarteten Fort­setzung soll «die Welt, in der wir leben», sie inspiriert haben.

Nur das zu verwenden, was bereits Realität ist, ist auch Konzept eines anderen, oftmals prophetisch genannten Atwood-Werks, das die US-Produktionsfirma Paramount Television aktuell ebenfalls als ­TV-Serie entwickelt: Ihre Trilogie namens «Oryx & Crake» zeigt auf, zu welch einer Welt die unsrige – mit der unheilvollen Mischung von ökologischen Katastrophen, Hochtechnologisierung, Gentechnologie und Internet-Pornografie – im Extremfall führen kann.

Sechzehn Romane und siebzehn Gedichtbände

Von Schweinen, die menschliche Gene erhalten, weil in ihnen menschliche Organe gezüchtet wurden, bis hin zu Ökoterrorismus-Kulten, von Grosskonzernen, die Landesregierungen als Macht­haber abgelöst haben, bis hin zu ­biolumineszent in der Nacht leuch­tenden Hasen, die einst als Haus­tiere ­genetisch gezüchtet wurden, verwebt Atwood darin das Ende unserer Welt zu einer zaghaft hoffnungs­vollen ­Zukunft. Sie liest sich trotz aller Gesellschaftskritik wie der rasanteste Thriller, der erst noch literarisch herausragend geschrieben ist.

Wer einmal mit Atwood angefangen hat, wird nicht aufhören wollen – und kann glück­licherweise lange weiterlesen: Sechzehn Romane und siebzehn Gedichtbände, dazu diverse Sachbücher, Kinderbücher und eine Graphic Novel hat die umtriebige Autorin seit 1969 ver­öffentlicht.

Sie verkauft in der Folge nicht nur Millionen von Büchern, sondern betätigt sich auch als Erfinderin – unter ­anderem eines interaktiven Roboterstifts –, als Lehrerin, Literatur­kritikerin und Umweltaktivistin. Und natürlich hat sie ungefähr ­jeden englischen, kanadischen und amerikanischen Literaturpreis ­abgeräumt, den es gibt.

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