Manipulierte Rechnungen
Tarif-Gutachter fliegt mit falschen Abrechnungen auf

Ein Zürcher Schmerzmediziner ist gefragter Tarif-Experte. Jetzt kommt heraus: Er hat selber mehrfach falsch abgerechnet. Zwei Patientinnen liessen ihn auffliegen.
Publiziert: 02.06.2018 um 23:52 Uhr
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Aktualisiert: 10.12.2020 um 09:40 Uhr
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Am Zürichsee wirkt der renommierte Rheumatologe.
Foto: Keystone
Reza Rafi

Das Schweizer Gesundheitssystem ist für Laien ein Dschungel. Umso wichtiger sind die Experten. Wenn es um Tarife geht, gilt A.W. (Name der Red. bekannt) als Instanz. Der Rheumatologe aus der Zürichseeregion ist Tarifdelegierter der Ärztevereinigung FMH, sitzt im Vorstand der Fachgesellschaft für Schmerztherapie und hat beim Tarifvertragswerk Tarmed mitgewirkt.

Als 2015 im See-Spital Horgen mutmasslich falsche Rechnungen ans Tageslicht kamen, holten ihn die Versicherer als Gutachter. In Presse und Fernsehen trat er als Kronzeuge auf und half mit, den Klinikpräsidenten zu stürzen. Die Rechnungen seien «inakzeptabel», sagte er damals in der NZZ. «Es könnte eng werden für das Spital», zitierte ihn die «Weltwoche» im Oktober 2015. «Viele Patienten haben über Franchisen und Selbstbehalte mitbezahlt», gab er zu bedenken.

Massagen als ärztliche Therapien abgerechnet

Als Renata Blum* W.s Medienauftritte sah, war sie sprachlos. Sie hatte in jungen Jahren einen Autounfall und leidet seither an Schmerzen. Die Mittfünfzigerin steht voll im Berufsleben. «Ausgerechnet der!», dachte sie. 2015 war sie bei ihm in Behandlung. Dann fielen ihr die Rechnungen auf. Da waren für eine vierstellige Summe Leistungen als ärztliche Position verbucht, die sein Masseur erbracht hatte – und die vor allem gar nicht kassenpflichtig sind: eine sogenannte Matrixtherapie, bei der Körperzellen von aussen mit magnetischen Schwingungen stimuliert werden.

Blum meldete sich bei der Zürcher Gesundheitsdirektion und schrieb ihrer Krankenkasse – auch wegen Manipulationen der Tarifpositionen. In dem Brief, der SonntagsBlick vorliegt, moniert sie «arglistige Täuschung und Irreführung des Patienten». Dann erfuhr sie, dass sich eine weitere Patientin bei den Behörden über W.s Rechnungen beschwert hatte. Sein Masseur hatte die Schmerzen der rund 90-Jährigen bereits Mitte der Nullerjahre mittels Stosswellentherapie behandelt. Dabei wird der betroffene Körperbereich mit Druckwellen stimuliert. Weil auch dieses Verfahren nicht kassenpflichtig ist, rechnete W. stattdessen eine Manualtherapie durch den Facharzt ab. Man kann nur ahnen, was in diesem Medizinalbereich während eines Jahrzehnts so zusammenkommt.

W.: «Es ging mir um die Patienten»

Wie häufig in solchen Fällen einigte man sich aussergerichtlich: W. erstattete den Kassen beider Patientinnen Geld zurück. Auf Anfrage räumt er falsche Abrechnungen ein. Es sei ihm aber nicht um Bereicherung gegangen, sondern stets um die Patienten: «Natürlich war es heikel, eine ärztliche Position für alternative Behandlungen anzuwenden, aber wir waren naiv und dachten, dass der Patient wichtiger sei als die Beamten.» Die Positionen seien in den Tarmed-Verträgen nicht näher definiert. «Ich weiss heute noch nicht, wie ein Gericht darüber entscheiden würde.»

Patientin Blum sei ein «Spezialfall» gewesen, es hätte sich um eine Probetherapie gehandelt, weil 30 Jahre lang nichts geholfen habe. Sie sei dann nicht zur Nachkontrolle erschienen. «Die Behandlung hätte deshalb nicht fortgesetzt und schon gar nicht abgerechnet werden dürfen. Das entging mir aber, und es wurde der Kasse auch mitgeteilt. Leider erst, nachdem die Pa­tientin reklamiert hatte.»

Kritik am System

Heute sind die Kassen strikter. W.: «Es gab Fälle, wo man Analogpositionen verwendete, um den Patienten nicht im Regen stehen zu lassen. Seit einiger Zeit werden diese zuungunsten der leidenden Patienten kaum noch angewendet, da die Kontrollen strenger geworden sind.»

Einsparungen mache man damit nicht, da diese Patienten «mit den üblichen nutzlosen Therapieformen weiterbehandelt werden und unter Umständen arbeitsunfähig bleiben». Matrix- und Stosswellentherapie seien «nach all den Erfahrungen, die wir in 30 Jahren gesammelt haben», die besten Methoden. An die Adresse der Versicherer sagt W.: «Man lässt lieber für teures Geld unnütze Behandlungen oder gar Operationen durchführen als für weniger Geld bewährte Therapien.»

2015 hingegen, im Fall See-Spital, sei es um Leistungen gegangen, die verrechnet, aber nicht erbracht wurden. «Man rechnete zusätzlich zu einer Analogposition ein teures Gerät ab, welches nicht verwendet wurde.» Die Gegenseite freilich bestreitet dies.

Renata Blum erhielt am 30. April eine Antwort von der Zürcher Gesundheitsdirek­tion: «Selbstverständlich erachten wir das von Ihnen beschriebene und auch dokumentierte Verhalten von Dr. med. W. als nicht korrekt.» Man sei aber nicht für Einzelfälle zuständig. Blum behält sich eine Strafanzeige vor. «Ich will, dass die Behörden das System unter die Lupe nehmen.»

* Name geändert

Verhärtete Fronten

Der Begriff Tarmed (aus dem Französischen «tarif médical») bezeichnet den umfassenden Vertrag zwischen Krankenversicherern und ambulant tätigen Ärzten. Das Regelwerk legt die Leistungspositionen der ­Mediziner gegenüber Kassen und Patienten fest. Derzeit berät Bundesbern eine Revision – die stetig steigenden Gesundheitskosten sollen mit einer Vertragsreform gebremst werden.

Doch nach gescheiterten Verhandlungen zwischen Ärzten, Spitälern und Krankenkassen blockieren die politischen Lager einen Durchbruch. Letzte Woche nahm der Ständerat eine FDP-Motion an, welche die Bildung einer Organisation für die «regelmässige, sachgerechte und betriebswirtschaftliche Tarif­pflege» anstrebt, sprich die verhärteten Fronten aufweicht. Gesundheitsminister Alain Berset (SP) unterstützt das Anliegen. Insgesamt macht die ambulante Medizin 23 Prozent der Gesundheitskosten aus. Für Mediziner im stationären Bereich existiert bereits eine solche Struktur: Die Organisation Swiss DRG (Swiss Diagnosis ­Related Groups) ist für die Fallpauschalen in den Spitälern zuständig und steuert dadurch die Tarifpolitik der Kliniken.

Der Begriff Tarmed (aus dem Französischen «tarif médical») bezeichnet den umfassenden Vertrag zwischen Krankenversicherern und ambulant tätigen Ärzten. Das Regelwerk legt die Leistungspositionen der ­Mediziner gegenüber Kassen und Patienten fest. Derzeit berät Bundesbern eine Revision – die stetig steigenden Gesundheitskosten sollen mit einer Vertragsreform gebremst werden.

Doch nach gescheiterten Verhandlungen zwischen Ärzten, Spitälern und Krankenkassen blockieren die politischen Lager einen Durchbruch. Letzte Woche nahm der Ständerat eine FDP-Motion an, welche die Bildung einer Organisation für die «regelmässige, sachgerechte und betriebswirtschaftliche Tarif­pflege» anstrebt, sprich die verhärteten Fronten aufweicht. Gesundheitsminister Alain Berset (SP) unterstützt das Anliegen. Insgesamt macht die ambulante Medizin 23 Prozent der Gesundheitskosten aus. Für Mediziner im stationären Bereich existiert bereits eine solche Struktur: Die Organisation Swiss DRG (Swiss Diagnosis ­Related Groups) ist für die Fallpauschalen in den Spitälern zuständig und steuert dadurch die Tarifpolitik der Kliniken.

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