Lukas Bärfuss schreibt über Donald Trump
Der Immune

Donald Trump empfand das Coronavirus nie als persönliche Bedrohung, weil er sich nicht als Teil der Gesellschaft sieht, die das Virus gefährdet.
Publiziert: 10.10.2020 um 14:12 Uhr
|
Aktualisiert: 13.11.2020 um 22:58 Uhr
1/8
Donald Trump sehe sich nicht als Teil der Gesellschaft, schreibt Autor Lukas Bärfuss.
Foto: AFP
Lukas Bärfuss

In diesen Tagen braucht man einen weiten Blick, um das menschliche Verhalten zu verstehen, und manch einer, der nach Orientierung sucht, mag bei den ältesten Texten landen und dort sogar einen Kommentar zum amerikanischen Wahlkampf finden. Bei einem griechischen Tragödiendichter etwa, bei Sophokles, der im fünften Jahrhundert in seiner «Antigone» den Chor sagen lässt: «Viel Ungeheures ist, doch nichts so Ungeheures wie der Mensch.»

Mit dem Blick nach Amerika können wir Zeitgenossen auch zweieinhalbtausend Jahre später diese Beobachtung bestätigen. Der Zivilisationsprozess hat daran wenig geändert. Ungeheuer in seinen Taten, schamlos, ohne Mitgefühl und Verantwortung, so benimmt sich der amerikanische Präsident, und je näher der Wahltag rückt und seiner Herrschaft die Nemesis droht, umso ungeheuerlicher werden seine Taten und Worte.

Im Rosengarten war alles wie immer

Auf der Südseite des Weissen Hauses, im sogenannten Rosengarten, versammelten sich am Nachmittag des 29. September einige der mächtigsten Frauen und Männer des immer noch mächtigsten Landes der Welt. Dieser Garten ist nicht gross, vierzig Meter lang, zwanzig Meter breit, und so sassen die zweihundert Honoratioren eng gereiht, Schulter an Schulter. Man ertrug es, schliesslich durfte man sich das Spektakel nicht entgehen lassen. Der Vizepräsident mit seiner Frau war da, der Justizminister, der Stabschef, Dutzende von Senatoren und Abgeordnete aus dem Kongress. Sie warteten gespannt auf die Frau, die der Präsident für den frei gewordenen Sitz am Obersten Gericht vorgesehen hatte. Natürlich war die Presse auch gekommen, Fotografen schossen wie üblich ihre Bilder, und wenn spätere Generationen sie betrachten werden, dann wird es ihnen schwerfallen, einen Unterschied zu anderen, bei ähnlichen Gelegenheiten erstellten Aufnahmen auszumachen. Alles war wie immer. Und genau darin bestand an jenem Tag der Wahnsinn.

Der Präsident, die Minister, der Stabschef: Viele Gäste jenes illustren Nachmittags stehen Tag und Nacht unter dem Schutz bewaffneter Agenten. Wie der Präsident und die First Lady bewegen auch sie sich in gepanzerten Wagen, in Konvois und auf Strassen, die für den restlichen Verkehr gesperrt sind. Auf dem Dach des Weissen Hauses halten Scharfschützen nach Attentätern Ausschau. Flugabwehrwaffen sind stationiert. Es gab an jenem Nachmittag auf der ganzen Welt wohl keinen Ort, der besser geschützt war als eben dieser pittoreske Garten gleich hinter dem Oval Office. Denn das schöne Spätsommerwetter täuschte darüber hinweg, dass Amerika und seine Führer viele Feinde haben: Terroristen, Agenten feindlicher Mächte und ganz normale Verrückte bedrohen ständig die Sicherheit. Den Staat zu schützen, bedeutet deshalb, die Amtsträger, und ganz konkret ihre Körper zu schützen und dafür zu sorgen, dass sie möglichst wenig in Kontakt mit einer unberechenbaren Welt kommen, die sie umgibt und potenziell bedroht.

Die zwei Körper des Königs

Wer in den Staatsdienst eintritt, und das gilt nicht nur für die USA, sondern für jeden anderen Staat auch, der soll und darf sich nicht mehr um Dinge kümmern, die einen grossen Teil des Lebens normaler Menschen ausmachen. Die Versorgung seines Körpers wird ihm abgenommen. Er soll nicht mehr kochen, nicht mehr waschen und bügeln oder Rechnungen bezahlen. Das hat nicht zuerst praktische oder organisatorische Gründe. Man entzieht den Körper der Berührbarkeit, man entrückt ihn von allem, was ihm gefährlich werden könnte. Hier lebt das fort, was der Historiker Ernst Kantorowicz als die beiden Körper des Königs beschrieben hat, der eine ist der zeitliche, hinfällige, der andere ist der sakrale, unverwüstliche Leib, der nicht dem Menschen, sondern dem Staat gehört. Kein Gericht darf ihn anklagen, kein Polizist kontrollieren, kein Zöllner durchsuchen: Für die Dauer ihrer Amtszeit verfügen Mandatsträger Immunität. Sie gehört zu den Privilegien des Amtes, und da in einer Demokratie die Macht nur auf Zeit verliehen wird, verliert der Magistrat mit seinem Amt auch seine Unberührbarkeit und wird zum normalen, belangbaren Bürger.

Der lateinische Begriff «munus», der dem Begriff der Immunität zugrunde liegt, stand im Zentrum dessen, was ein Römer sich unter einem Bürger vorstellte. Der römische Universalgelehrte Marcus Terentius Varro erklärt die Bedeutung des Begriffes im ersten Jahrhundert vor Christus so: «Munus ist das, was jene, die in einem wechselseitigen Verhältnis stehen, aus Verpflichtung geben. Zum anderen heisst munus, was eingefordert wird zum Zwecke der Befestigung, deshalb werden auch jene, die gemeinsam dieses munus entrichten, municipes, Mitbürger, genannt.»

Der Immune ist also jener, der von diesen Abgaben enthoben ist, dem das Privileg zukommt, sich nicht an den gemeinschaftlichen Abgaben beteiligen zu müssen.

Verachtung für den Dienst

Donald Trump hat zeit seines Lebens alles unternommen, um kein «municipes» zu sein. Für ihn ist die Immunität kein Privileg des Amtes. Er hat das, was eingefordert wird zum Zwecke der Befestigung, nicht entrichtet. Er hat sich mit einem medizinischen Attest vor dem Militärdienst gedrückt. Für jene, die weniger erfindungsreich waren und den Dienst leisten mussten, zeigte er stets nur Verachtung. Den verstorbenen Senator John McCain, der viele Jahre in vietnamesischer Gefangenschaft verbrachte und von der erlittenen Folter gezeichnet, aber nicht gebrochen war, nannte er einen Verlierer. Bei einem Staatsbesuch in Frankreich weigerte er sich, den Gefallenen auf einem Militärfriedhof die Ehre zu erweisen. Das entspricht seiner Logik. Für ihn sind es Gescheiterte, denen es nicht gelungen ist, ihre Person und ihren Körper immun zu halten.

Und wie die Öffentlichkeit längst vermutet hat und was kürzlich durch die «New York Times» bestätigt wurde, hat er viel Geld für Anwälte ausgegeben, um möglichst wenig Steuern bezahlen zu müssen. Unter keinen Umständen wollte er das «munus» entrichten: Er wollte in keinem wechselseitigen Verhältnis stehen.

Im Wahlkampf 2016 erfuhr die Öffentlichkeit, wozu ihn die Immunität seiner Meinung nach berechtigt. Er glaubt, eine Frau anfassen zu dürfen, wann und wo es ihm gefällt. Niemand könne ihn dafür belangen oder zur Rechenschaft ziehen. Mehr noch: Selbst einen Mord auf der Fifth Avenue in New York würden ihm seine Anhänger nachsehen. Er bliebe in seinem Fall ungestraft.

Nicht Strategie, sondern Überzeugung

Donald Trump sieht seinen Platz jenseits der Gemeinschaft, jenseits der «communitas», die aus demselben Wortstamm erwachsen ist. Er wandelt in anderen Sphären. Es ist deshalb keine Wahlstrategie, wenn er ohne Maske in den Rosengarten tritt. Wie andere Machthaber, von Boris Johnson über Jair Bolsonaro bis zu Alexander Lukaschenko, hält er sich tatsächlich für immun. Er weiss, wie gefährlich dieses Virus für gewöhnliche Menschen ist, für alle, die der Munizipalität angehören. Aber er selbst ist nicht Teil davon. Er ist immun und hat keine Angst, sich anzustecken, wie er dem Journalisten Bob Woodward ganz offen ins Mikrofon bekannte.

Wer in seiner Gegenwart eine Maske trägt, äussert einen sichtbaren Zweifel an diesem Selbstbild. Deshalb wagte es niemand von den Gästen, sich im Rosengarten einen Mund-und-Nasen-Schutz aufzusetzen. Das Virus, mit dem sich mehr als sieben Millionen Landsleute angesteckt und das zweihunderttausend von ihnen auf grässliche Weise umgebracht hatte, durfte den Präsidenten nicht bedrohen. Wer sich zur Begrüssung die Hände reichte, oder wie der Senator des Bundesstaates Utah Leute an sich drückte und herzte, bewies damit seine unbedingte Loyalität zum Präsidenten. Die Folgen sind bekannt. Das «severe acute respiratory syndrome coronavirus 19» fühlte sich an keine Loyalität gebunden. In den Tagen darauf erkrankten unter anderen der Präsident, seine Frau und ein gutes Dutzend der Gäste im Rosengarten, darunter auch, wenig erstaunlich, der etwas zu joviale Senator aus dem Mormonenstaat. Die Flugabwehrraketen und die Männer mit dem Knopf im Ohr hatten sie nicht schützen können. Sie waren dem Grössenwahn ihres Präsidenten und mehr noch ihrer eigenen Feigheit zum Opfer gefallen.

Diese Hybris beschreibt Sophokles in ewiger Gültigkeit. Mit dem Ackerbau habe sich der Mensch die Erde Untertan gemacht, selbst im grössten Sturm könne er die Meere mit seinen Schiffen befahren, er beherrsche Sprachen, sogar Gedanken – alleine dem Tod entkomme er nicht, und auch wenn er sich Auswege ersinne, die Seuchen blieben unentrinnbar. Und wer sich nicht an die Gesetze des Landes und nicht an die den Göttern geschworene Gerechtigkeit halte, der solle die Stadt verlassen, mit dem solle niemand den Herd und seinen Rat teilen.

Am 3. November werden wir sehen, ob die Bürgerinnen und Bürger der USA die Ansicht des griechischen Dichters teilen.

Fehler gefunden? Jetzt melden

Was sagst du dazu?