Die Sommerferien sind vorbei, im ganzen Land werden ab Montag Erstklässler mit einer neuen Welt der Buchstaben und Laute konfrontiert. Viele lernen dies auf kreative Weise, sie dürfen wild drauflosschreiben, frei nach Gehör und noch unkorrigiert. Was so klingende Kreationen wie «schport» (Sport), «wasa» (Wasser), «hunt» (Hund) oder «fil» (viel) zur Folge haben kann.
Um den richtigen Unterricht der kleinen Rechtschreib-Anarchisten wird erbittert gestritten. Eltern, Lehrer und Pädagogen liegen sich wegen des sogenannten lautgetreuen Schreibens in den Haaren. Besonders umstritten ist die Methode «Lesen durch Schreiben», die vom verstorbenen Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen erfunden wurde. Seine Lehre wurde zum Sündenbock für das angeblich sinkende Rechtschreibniveau.
Reichen ging es darum, zuerst die Kreativität der Kleinen zu fördern, die Rechtschreibung kommt dann quasi automatisch. Das war in den Achtzigerjahren, 30 Jahre später ist in der Schweiz wie in Deutschland vom grossen Rechtschreibnotstand die Rede.
Wie weit darf die Politik den Lehrern in den Unterricht pfuschen?
Seit kurzem mischt auch die Politik mit. Der Nidwaldner Bildungsdirektor Res Schmid (SVP) verbannte die Methode sogar per Weisung aus den Schulen. Ab der 2. Klasse ist in Nidwalden damit Schluss, obwohl dieser Schritt laut Lehrplan 21 erst in der 3. Klasse fällig wäre.
Nur. Wie weit darf die Politik den Lehrern in den Unterricht pfuschen? Sind Diskussionen um ein einzelnes Lehrmittel überhaupt Sache der Politik?
«In der Zentralschweiz wurde das Thema von einer Partei lanciert, dann machte die Diskussion die Runde in den Kantonen», sagt Dagmar Rösler, oberste Lehrerin des Landes. Die Präsidentin des Dachverbandes der Schweizer Lehrer (LCH) sagt: «Da wird etwas aufgekocht.»
Tatsächlich zeigt eine Umfrage des SonntagsBlicks, dass die umstrittene Methode immer häufiger auf dem Index landet.
Im Schuljahr 2017/2018 war Reichens Lehrmittel «Lesen durch Schreiben» noch in neun Kantonen belegt. Im aktuellen Schuljahr 2019/2020 sieht es in diesen neun Kantonen schon anders aus. In St. Gallen, Solothurn, Baselland, Freiburg und Aargau wurde das Buch ganz aus dem Lehrmittelverzeichnis getilgt, wie die Kantone bestätigen. In Schaffhausen soll das Lehrmittel in der näheren Zukunft von der Liste entfernt werden. Und der Thurgau will in den kommenden Jahren Änderungen vornehmen.
Die Rechtschreib-Debatte ist fast ein wenig hysterisch.
Lediglich in Schwyz und Basel-Stadt ist Reichens Werk unverändert und auch künftig auf der Lehrmittelliste aufgeführt, mit dem Status «alternativ-obligatorisch».
Wenn überhaupt, dann werde «Lesen durch Schreiben» nur noch selten und in Einzelfällen im Unterricht eingesetzt, so die Reaktion der Kantone. Reichens Lehre stirbt also langsam aus. Die Rechtschreib-Debatte, die landesweit von St. Gallen bis Solothurn in den Kantonsparlamenten geführt wurde, ist dagegen quietschlebendig, sogar fast ein wenig hysterisch. Das tönt im Falle des Aargauer Regierungsrats so: Auch er lehne Reichens Konzept ab, streiche das Lehrmittel von der Liste, verbiete das Unterrichten dieser Methode und an der Pädagogischen Hochschule dürfe das Konzept auch nicht mehr propagiert werden.
Eine Reaktion, so heftig, als wäre all die Jahre an unseren Primarschulen die Prügelstrafe gelehrt worden.
Die Praxis sieht viel pragmatischer aus, es dominiert ein Mix aus lautgetreuem Schreiben und klassischen Methoden, wie die Kantons-Umfrage weiter zeigt.
«Es ist eine Unterstellung, dass wir Lehrpersonen nicht mehr kontrollieren und korrigieren würden», sagt Dagmar Rösler, selber Primarlehrerin. Im Lehrplan 21 werde die Rechtschreibung stark gewichtet. «Bereits in der zweiten Klasse lernt man einfache Rechtschreiberegeln.» Sie habe übrigens auch noch nie einen Kollegen erlebt, dem es egal gewesen sei, wie die Schüler geschrieben hätten. «Diesen Vorwurf muss ich weit wegweisen.»
Eines zeigt der Streit deutlich: Offenbar hat die Rechtschreibung noch immer einen hohen Status in unserer Gesellschaft. Sie betrifft alle, ihre Anwendung sagt etwas über den Einzelnen aus und lässt einen Leser viel hineininterpretieren. Rösler: «Ich denke, dass Texte sehr viel über den Menschen aussagen, der sie geschrieben hat.»