An diesem Donnerstag steht wieder der Nationale Zukunftstag an – ein höchst erfolgreiches Projekt, bei dem Schülerinnen und Schüler einen Tag lang in den Alltag eines Berufs eintauchen. Auffällig: Das vom Bund geförderte Programm steht unter dem Motto «Seitenwechsel». Auf der Homepage für Spezialprojekte werden Mädchen zum Technik- und Autogewerbe geleitet, Buben zu Erziehungs- und Pflegeberufen. Müssen Minderjährige für die staatliche Geschlechterpolitik herhalten? Isabelle Santamaria, Geschäftsführerin Nationaler Zukunftstag, nimmt zu dieser Frage Stellung – und verrät, wie beliebt das Programm ist.
SonntagsBlick: Frau Santamaria, wieso lassen Sie die Kinder nicht einfach frei, ohne Scheuklappen entscheiden, wo sie schnuppern wollen?
Isabelle Santamaria: Dann würde sich der Zukunftstag nicht mehr von einem normalen Berufsschnuppertag unterscheiden, den Schülerinnen und Schüler während der Berufswahlphase im 8. Schuljahr absolvieren.
Aber auch hier geht es doch ums Schnuppern.
Die Kinder, die am Zukunftstag teilnehmen, befinden sich noch nicht in der Berufswahlphase. Stattdessen können sie Berufsfelder vorurteilsfrei erkunden, die ihren persönlichen Neigungen und Talenten entsprechen. Ziel des Zukunftstags ist es also nicht, in ihren Wunschberuf hineinzuschnuppern, sondern Berufe zu erkunden, die üblicherweise nicht mit ihrem Geschlecht in Verbindung gebracht werden. Auf diese Weise können sie später vorurteilsfrei entscheiden, in welchen Beruf sie einsteigen möchten, der ihren Vorlieben und Talenten entspricht.
Durch die Aktion «Seitenwechsel» wird bereits Kindern vermittelt, dass es Männer- und Frauenberufe gibt. Das ist doch kontraproduktiv.
Die Kinder, die am Zukunftstag mitmachen, erfahren, dass alle Berufe für sie wählbar sind, einschliesslich der Berufe, die in der Gesellschaft eher dem anderen Geschlecht zugeordnet werden. Leider entscheiden sich heutzutage immer noch die Hälfte der jungen Frauen für nur fünf Berufe und die Männer für rund 16 Berufe aus insgesamt 250 Lehrberufen. Genau hier setzt der Zukunftstag an.
Die Vorselektion bei den Spezialprojekten hat einen unnötigen Effekt: Der Bub, der etwas mit Autos machen will, bekommt ein schlechtes Gewissen, ebenso das Mädchen, das mal in den Erziehungsbereich blicken will.
Warum Vorselektion? Die besteht ja leider schon längst. Nochmals: Aus insgesamt 250 Lehrberufen entscheiden sich heutzutage immer noch die Hälfte der jungen Frauen für nur fünf Berufe und die Männer für rund 16 Berufe. Diese tief verwurzelte Praxis gilt es zu verändern, wenn wir eine gleichgestellte Gesellschaft erreichen wollen.
Widerstand gab es nie?
Wir haben noch nie erlebt, dass die Schülerinnen und Schüler aufgrund des Seitenwechsels eine negative Erfahrung gemacht haben. Im Gegenteil, eine junge Lernende hat mir kürzlich erzählt, dass sie ohne den Zukunftstag den Beruf der Automatikerin nie gewählt hätte, weil sie und auch ihre Eltern diesen Beruf gar nicht kannten. Oder: Jungs, die den Zukunftstag in einem Pflegeberuf verbracht haben, erzählen ganz begeistert, wie toll es war, einen Gipsverband zu machen oder den Blutdruck zu messen.
Dennoch – ist es sinnvoll, Minderjährige für die Umsetzung einer Gleichstellungspolitik einzuspannen?
Gleichstellung – oder besser: das Bewusstsein dafür – kann nicht früh genug beginnen. Die Förderung der Gleichstellung ist für alle von Vorteil. Obwohl Frauen und Männern heute dieselben Ausbildungen und Laufbahnen offenstehen, schränken stereotype Rollenbilder die Wahl immer noch ein. Es ist von grosser wirtschaftlicher Bedeutung, dem entgegenzuwirken, besonders im Hinblick auf den Fachkräftemangel. Dies zeigt sich in Berufsfeldern wie der IT und anderen MINT-Berufen (Mathematik, Informatik, Natur- und Ingenieurwissenschaft sowie Technik; Red.), in denen Frauen unterrepräsentiert sind, aber auch in Pflegeberufen, in denen Männer eine Minderheit bilden.
Wäre es zum Erreichen dieses Ziels nicht sinnvoller, bei den Arbeitsbedingungen der sogenannten «Frauenberufe» anzusetzen?
Ganz klar: Die müssen verbessert werden, unabhängig davon, ob künftig vermehrt Frauen oder auch Männer in diesen Berufen tätig sind. Denn verbesserte
Arbeitsbedingungen und höhere Löhne sind unerlässlich, um etwa Betreuungs- und Pflegeberufe attraktiv zu machen. Studien belegen, dass sich das Image und die Lohnstrukturen von Berufen verbessern, in denen Männer vermehrt tätig sind. Aber auch das Gegenteil ist der Fall: Je mehr Frauen in ein Berufsfeld kommen, desto schneller sinken die Löhne. Man spricht von der «Feminisierung» von Berufen.
Wie ordnen Sie das ein?
Das widerspiegelt die weiterhin vorherrschende strukturelle Diskriminierung von Frauen. Deshalb ist es wichtig, dass auch mehr junge Frauen technische und handwerkliche Berufe erkunden. Diese bieten ausgezeichnete berufliche Perspektiven, und aufgrund der Digitalisierung rücken sowohl technische als auch kommunikative Fähigkeiten immer stärker in den Mittelpunkt. Und diese Fähigkeiten haben kein Geschlecht.
Kein Zweifel: Die Aktion ist beliebt. Wie drückt sich das in Zahlen aus?
Beim Grundprogramm haben wir keine genauen Zahlen, da keine Anmeldung erforderlich ist. Bei den Spezialprojekten, die auf unserer Website publiziert werden, über die sich die Schülerinnen und Schüler anmelden, haben wir für das Jahr 2023 insgesamt 11 490 Projektplätze. Im Vorjahr waren es noch 9731.