Wenn nur diese verdammte Anspannung nicht wäre! Schütz Renato (Männer werden beim Platzgen konsequent zuerst mit Nachnamen angesprochen) hat bisher einen guten Lauf hinter sich.
Jetzt spielt er um einen der vielen Preise, die es zu gewinnen gibt, und schüttelt nach dem ersten Wurf verärgert den Kopf. Zu weit daneben, um eine Chance auf den Gewinn einer sogenannten Ehrengabe in Form einer Heckenschere oder eines Smoker-Grills zu haben. Vier Versuche hat er noch.
Renu, wie ihn seine Kollegen vom Platzgerclub Lyssach nennen, hat lange Eishockey gespielt. «Dort kannst du den Start verschlafen und doch noch gewinnen», sagte der 31-Jährige im Vorfeld des heutigen Wettkampfs. «Beim Platzgen wirst du für jeden Fehler bestraft.»
Schweiss tropft in angespannte Gesichter
Es ist heiss auf dem Platz vor dem Schulhaus von Hettiswil im Emmental an diesem letzten Augusttag des Jahres. In die angespannten Gesichter der Teilnehmer des Turniers, das am Nachmittag mit dem Kampf um den Titel des Schweizer Meisters enden wird, tropft der Schweiss.
Schütz hackt mit der Ferse seines Trekkingschuhs eine Delle in den totgetrampelten Rasen, damit er nicht nach hinten ausrutscht, und positioniert sich Richtung Ziel. Ein tiefer Atemzug lässt seinen Brustkorb anschwellen, dann in sich zusammensacken. Es scheint, als wäre sein Körper an der Erdoberfläche festgeschraubt.
Er streckt den rechten Arm nach vorne, die Hand hält dieses unförmige, gezackte Metallding – die Platzge. Wie ein Kegler schwingt Schütz seinen Arm nach hinten und wieder zurück.
Die Platzge fliegt in hohem Bogen rund siebzehn Meter durch die Luft und landet mit einem dumpfen Klatschen in einem runden Sockel aus Lehm, wo sie das Ziel in Form eines eisernen Stocks um 24 Zentimeter verfehlt. Das ist wieder nicht gut. «Achä!», sagt Renu. Sprich: runter. Das heisst, dass er gleich zum nächsten Versuch starten will.
Beim dritten Wurf ist es dann endlich zu hören – das Geräusch, das Platzger selig macht: ein grelles «Pling», das erklingt, wenn der Wurfkörper präzis an der Stelle landet, wo der Eisenstock und die Lehmfläche in einem rechten Winkel zusammenlaufen. 100 Punkte gibt es dafür – das Maximum.
Für die Heckenschere reicht es leider nicht
Schütz hat am Schluss trotzdem zu wenige Punkte gesammelt, als dass es für eine Ehrengabe reichen würde, und muss sich mit Platz 93 zufriedengeben. Er landet damit immerhin im vorderen Drittel der rund 355 Platzger, die um die Ehrengaben schiessen. Nicht schlecht für jemanden, der erst seit Frühling regelmässig trainiert.
Schütz Renatos Vater Fritz ist 58 Jahre alt, seit 40 Jahren Platzger und beim PC Hornbach-Wasen. Er schafft es im selben Lauf auf Platz 37. Noch ahnt niemand, dass Schütz Fritz heute noch einen sehr viel grösseren Erfolg erzielen wird.
Die Kirche verbot das Platzgen vorübergehend
Platzgen gehört wie Schwingen, Hornussen und Steinstossen zu den Schweizer Traditionssportarten und war früher landesweit verbreitet. Heute kennen fast nur noch die Berner den Sport oder das Spiel – über die korrekte Bezeichnung ist man sich nicht ganz einig.
Die Anfänge des Platzgens gehen bis ins Mittelalter zurück. Vorübergehend verbot die Kirche das «Plättle» oder «Stöckle», wie es damals hiess, weil seine Fans das Gebet vernachlässigten. Später störten sich die Vögte am Umstand, dass Geld floss bei der Lieblingsbeschäftigung vieler Bauern, die eine Münze auf den Stumpf des Stocks legten. Wer sie herunterwerfen konnte, durfte das Geldstück in den Sack stecken. Aber nur, wenn es mit dem Kopf nach oben im Lehm liegen blieb!
Heute fällt Platzgen nicht mehr in die Kategorie Glücksspiel, die ausgeklügelten Regeln sind geblieben.
Für jeden Zentimeter Abstand, mit dem die eins bis drei Kilogramm schwere Platzge neben dem Stock im Lehm stecken bleibt, gibt es einen Punkt Abzug.
Die Punkte werden von einem Total von 100 Punkten subtrahiert. Mit einem Wurf, der fünf Zentimeter daneben geht, erzielt ein Spieler zum Beispiel 95 Punkte.
Null Punkte gibts für einen Wurf, der erst gar nicht im Lehm landet. Genauso für den Fall, dass eine Platzge dummerweise auf den Stock fällt wie ein Tennisball auf die Kante des Netzes und aus dem Ziel, Ries genannt, herausspickt. Solche Stöckli-Nuller können für die Spieler gefährlich werden, die daneben stehen, um die Abstände zu messen.
Der Feuchtigkeitsgehalt ist Glaubensfrage
Kurios wird die Sache, wenn es um den Feuchtigkeitsgehalt des Lehms geht. Hier macht jeder Spieler seine Präferenz geltend. Lehm heisst auf Berndeutsch Lätt. Vor dem Spiel wünschen sich Platzger Glück, indem sie sich «Guet Lätt» zurufen.
Je weicher der Lätt, desto leichter rutscht die Platzge durch ihn hindurch und kommt dem Stock vielleicht noch ein bisschen näher. Allzu nass ist aber nicht gut, weil der Werfer die Platzge dann nach jedem Wurf unendlich lange mit seinem Lappen putzen muss, damit sie wieder griffig in der Hand liegt.
Das verzögert das Spiel. Beeilen muss sich hier zwar niemand – «juflä» gilt als uncool – doch Kraft und Konzentration nehmen selbst beim stärksten Spieler mit der Zeit ab. Denn Platzgen ist in etwa so einfach, wie auf dem Basketballfeld einen Korb von der Dreierlinie zu schiessen. Mit einer Bowlingkugel.
Der erste Wurf fühlt sich für einen Laien an, als würde ihm der Arm abgerissen. Wer es nicht besser weiss, gibt am Anfang zu viel Druck in die Bewegung – die Eisenplatte fliegt zu schnell in Richtung Boden, wo sie ein paar Meter weiter rumpelt und liegen bleibt. Profis nutzen den Schwung aus und aktivieren die Muskelkraft der Schultern, Arme und Beine erst am Ende des Bewegungsablaufs. Das sieht oft mühelos aus, manchmal auch spastisch.
Der Sport ist schon wichtig. Das Bier aber auch.
Aus dem Festzelt hinter dem Vereinshaus des PC Hängelen, des heutigen Gastgeberklubs, ist gedämpfte Schlagermusik zu hören. Schütz Renato hat für heute fertig geschossen und holt sich an einem Stand ein Bier.
Es wird nicht die letzte Flasche bleiben, die Renu heute mit seinen Kollegen leert. «Genauso wichtig wie das Spiel, ist uns Kollegschaft und gemütliches Beisammensein.» Sie sind schon lange befreundet. Ädu, Domi, Schnitz, Pädu, Köbu, Jule, Vättu (wie sie genannt werden wollen) wuchsen im selben Dorf auf: Lyssach im Verwaltungskreis Emmental des Kantons Bern. Oder sie kennen sich vom «Hockeylä».
Schütz war auf gutem Weg zum Hockey-Profi. Doch eine schwere Knieverletzung warf ihn immer wieder zurück. Er machte eine Elektromonteur-Lehre und lässt sich demnächst zum Elektrotechniker weiterbilden. Mit Eishockey hat er aufgehört. «Wir hatten Angst, uns aus den Augen zu verlieren», sagt Schütz über sich und seine Kollegen. Deshalb beschlossen sie, zusammen zu platzgen. «Das können wir die nächsten dreissig, vierzig, fünfzig Jahre machen.»
2018 gründete die Clique mit dem PC Lyssach den mit Abstand jüngsten Platzgerklub der Schweiz mit aktuell zehn Aktivmitgliedern. Einmal pro Woche trainiert die Truppe.
Mattschwarze Sportsgear neben grellfarbenen Viskose-Trikots
Sie fallen auf, wie sie da auf ihren Campingstühlen unterm selbst mitgebrachten Zeltpavillon sitzen. Eine jugendliche, bärtige Truppe in mattschwarzen Outfits, auf denen prominent das goldfarbene Klublogo leuchtet. Umgeben von weniger jugendlichen, aber genauso bärtigen Platzgern in grellfarbenen Viskose-Trikots, abgewetzten Tanktops und Suva-zertifiziertem Schuhwerk.
Trotz Exotenstatus sind die Lyssacher hier gern gesehen. Kein Wunder: Sie verkörpern die Zukunft einer Sportart mit einem Überalterungsproblem.
In den vergangenen zehn Jahren lösten sich sechs Klubs auf – hauptsächlich, weil ihre Mitglieder körperlich nicht mehr fit genug waren oder verstarben. Waren in den 70er-Jahren noch schätzungsweise 550 Aktive registriert, sind es heute nur noch 380. Nur zwei von ihnen sind unter zwanzig Jahre alt. Frauen, die platzgen, gibt es seit 2014 nur noch ganz wenige. Damals löste sich der Verein der Platzger-Damen auf.
Die Schweizer Meisterschaft geht los
Die besten 16 Spieler machen sich jetzt bereit, um für den Titel des Schweizer Meisters zu kämpfen. Schütz’ Vater Fritz hat sich als Zwölftbester für den Wettkampf qualifiziert. Ein zurückhaltender Mann, der als Besamungstechniker arbeitet. Die Spermien, mit denen die Kühe besamt werden, bringt er in einem kleinen Koffer auf den Hof. «Köfferli-Muni», nennt man diesen Beruf deshalb in Bern.
Schütz Fritz hat beim Platzgen einen Durchschnitt von 88,57 Punkten. Das heisst, dass seine Würfe in der aktuellen Saison – rund 191 an der Zahl – durchschnittlich elf Zentimeter neben dem Stöckli landeten. Bei anderen Favoriten sind es sogar nur sieben Zentimeter.
Zehn Mal darf jeder schiessen. Wer Chance auf den Titel haben will, sollte jedes Mal mindestens neunzig Punkte erreichen, plus einige Hunderter landen.
Platzgen auf diesem Niveau ist wie Penaltyschiessen im Fussball
Schütz Fritz wirft zum ersten Mal. «Pling» – ein Hunderter. Zum zweiten Mal. «Pling», ein zweiter Hunderter. Es geht weiter mit 93 Punkten – gut! Dann mit 87 Punk- ten, was gerade noch okay ist. Beim fünften Wurf driftet seine Hand ein wenig nach rechts ab. 77 Punkte. Autsch. Das ist der Moment, wird er später sagen, in dem er vor Aufregung seinen Puls im Kopf klopfen hört und dafür sorgen muss, dass er mental «wieder richtig in den Arm» kommt.
Es gelingt ihm, sich wieder zu fangen. Bis zum Schluss des Spiels schiesst Schütz Fritz zwei zusätzliche Hunderter und macht zwei weitere Schüsse mit über neunzig Punkten. Schütz schüttelt dennoch verärgert den Kopf. Ein echter Platzger gibt niemals zu erkennen, dass er mit seiner Leistung zufrieden ist.
Die Lyssach-Platzger sind ganz aufgeregt. Es sieht nach einem Top-Platz für den Vater ihres Klubmitglieds aus! Wenn nur auf Bahn 4 nicht gerade einer einen Hunderter nach dem anderen werfen würde!
Platzgen auf diesem Niveau ist wie ein Penaltyschiessen im Fussball: Jeder missglückte Schuss kann das Aus bedeuten. Auf Bahn 4 endet die Glückssträhne mit einer Pechserie. Schütz Fritz ist Schweizer Meister.
Bei traditionellen Schweizer Sportarten geht es oft darum, einen Gegenstand möglichst weit von sich weg zu befördern. Auch Wurfsportarten aus den USA finden bei uns Anhänger.
Schwingen: Nach dem Schwingen ist Hornussen die beliebteste ländliche Traditionssportart in der Schweiz. Ähnlich wie bei Baseball und Cricket geht es darum, den Nouss (vergleichbar mit einem Eishockey-Puck) mit einem elastischen Stecken so weit wie möglich ins gegnerische Spielfeld zu schiessen. Die gegnerische Mannschaft versucht, den Nouss mit Schindeln zu stoppen.
Axt- und Messerwerfen: Die Schweizer Werfer-Vereinigung macht Interessenten das Axt- und Messerwerfen zugänglich. Vergleichbar mit Dart wird ein Messer oder eine Axt aus Entfernungen bis zu sieben Metern auf eine Zielscheibe geworfen. Je weiter in Zentrum die Waffe landet, desto mehr Punkte erhält der Werfer. Der Sport ist im angelsächsischen Raum am weitesten verbreitet.
Steinstossen: Die Legende sagt, das Steinstossen gehe auf die Schlacht am Morgarten zurück, bei der Schwyzer Bauern und Adlige anno 1315 ein österreichisches Heer mit Felsbrocken bewarfen. Der bekannteste Anlass dieser Nationalsportart ist das Unspunnenfest, bei dem der 83,5 Kilo schwere Unspunnenstein so weit wie möglich gestossen wird. Der Rekord liegt bei 4,11 Metern.
Hufeisenwerfen: Horseshoes ein typischer Cowboysport. Beim Hufeisenwerfen, wie es auf Deutsch heisst, muss ein Hufeisen aus einer Entfernung von meistens zwölf Metern so in Richtung einen Stocks geworfen werfen, dass es ihn umschliesst. In der Schweiz spielen fünf Klubs wettkampfmässig. Drei von ihnen sind in Bern stationiert, einer in Baselland und einer in St. Gallen.
Bei traditionellen Schweizer Sportarten geht es oft darum, einen Gegenstand möglichst weit von sich weg zu befördern. Auch Wurfsportarten aus den USA finden bei uns Anhänger.
Schwingen: Nach dem Schwingen ist Hornussen die beliebteste ländliche Traditionssportart in der Schweiz. Ähnlich wie bei Baseball und Cricket geht es darum, den Nouss (vergleichbar mit einem Eishockey-Puck) mit einem elastischen Stecken so weit wie möglich ins gegnerische Spielfeld zu schiessen. Die gegnerische Mannschaft versucht, den Nouss mit Schindeln zu stoppen.
Axt- und Messerwerfen: Die Schweizer Werfer-Vereinigung macht Interessenten das Axt- und Messerwerfen zugänglich. Vergleichbar mit Dart wird ein Messer oder eine Axt aus Entfernungen bis zu sieben Metern auf eine Zielscheibe geworfen. Je weiter in Zentrum die Waffe landet, desto mehr Punkte erhält der Werfer. Der Sport ist im angelsächsischen Raum am weitesten verbreitet.
Steinstossen: Die Legende sagt, das Steinstossen gehe auf die Schlacht am Morgarten zurück, bei der Schwyzer Bauern und Adlige anno 1315 ein österreichisches Heer mit Felsbrocken bewarfen. Der bekannteste Anlass dieser Nationalsportart ist das Unspunnenfest, bei dem der 83,5 Kilo schwere Unspunnenstein so weit wie möglich gestossen wird. Der Rekord liegt bei 4,11 Metern.
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