Cyber-Ermittler des Bundes waren wegen Reorganisation monatelang nicht handlungsfähig
Pädophile agierten unentdeckt!

Seit Jahren befindet sich die Bundeskriminalpolizei im Umbau – auf Kosten wichtiger Dienststellen.
Publiziert: 03.03.2018 um 23:48 Uhr
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Aktualisiert: 13.09.2018 um 05:21 Uhr
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Das Internet ist Tummelplatz von Pädophilen.
Foto: South_agency
Cyrill Pinto

Ermittler aus Deutschland, Österreich und der Schweiz arbeiteten fieberhaft: Über Jahre verbreitete ein Nutzer mit dem Profilnamen «Slave­girl» (Sklavenmädchen) Kinderpornos, doch die Polizei konnte ihn nicht identifizieren.

2013 übermittelte Interpol die Fotos an Schweizer Behörden. Doch erst Fahnder des österreichischen Bundeskriminalamts erkannten ein Jahr später, dass ein Teil der Bilder in der Zentralschweiz produziert worden war.

Dann ging es Schlag auf Schlag. Einem Schweizer Beamten gelang es, sich in das geschützte Netzwerk eines Pädophilenrings einzuschleusen. «Slavegirl» wurde identifiziert und kam in Haft: Der 40-jährige Süddeutsche hatte seine Schweizer Nichte sexuell missbraucht, seit sie sieben Jahre alt war – ebenso ihren älteren Bruder. Bilder des Kindesmissbrauchs teilte er in Pädophilennetzwerken.

Der Mann hätte bedeutend früher gestoppt werden können.

Über mehrere Monate nicht funktionsfähig

Was damals nur Mitarbeiter der Bundeskriminalpolizei (BKP) wussten und erst heute öffentlich wird: Die Schnittstelle zwischen internationalen Ermittlern wie Interpol und den Ermittlern in der Schweiz war über mehrere Monate hinweg nicht funktionsfähig.

Vor 15 Jahren noch als Pionierbehörde in Europa gefeiert, wurde die Koordinationsstelle Internetkriminalität (Kobik) nach und nach von Begehrlichkeiten und persönlichen Auseinandersetzungen zerrieben, wie detaillierte Dokumente, interne Protokolle, E-Mails und Berichte zeigen, die SonntagsBlick vorliegen. Heute existiert die einstige Speerspitze gegen Internetkriminalität überhaupt nicht mehr.

Die Kobik war ein typisches Konstrukt der föderalen Schweiz: Mit wenigen Ausnahmen verfolgten Ermittler des Bundes die Internetverbrecher und spürten sie auf, zur Anklage jedoch wurden sie von kantonalen Stellen gebracht. Zwar stammten zwei Drittel der Kobik-Mittel von den Kantonen, administrativ aber war das Kommissariat der BKP angegliedert.

Als der neue Kobik-Leiter im Herbst 2011 seinen Posten übernahm, lag die Infrastruktur bereits am Boden.

Der Kobik zugeteilte Server standen still, waren teilweise sogar schon ausgeweidet. Und, noch schlimmer: «Kobik war mit allen Dossiers und Bildern ohne Firewall ungeschützt im Internet online, die Server wurden ohne Lizenzen und Virenschutz betrieben», wie es in einem internen Papier heisst. «Jeder Hacker hätte vermutlich problemlos eindringen und die Dossiers von Kobik inklusive Opferbildern veröffentlichen können.»

Ermittler blockierten sich gegenseitig

Die Technik war nicht das einzige Problem. Mangels klarer Aufgabenteilung zwischen Bundeskriminalpolizei und Kobik blockierten sich die Ermittler gegenseitig.

Ein Beispiel: die sogenannte ICSE-Datenbank von Interpol in Lyon (F), eines der wichtigsten Instrumente zur Identifikation von Opfern und Tätern im Bereich der Kinderpornografie. Interpol verweigerte der Kobik lange den direkten Zugriff – weil die Schweizer Cyberfahnder ihre Zuständigkeiten nicht geklärt hatten. Wie im Fall von «Slavegirl» wurden die Internetfahnder auf der Suche nach Opfer oder Täter aus der Schweiz massiv behindert.

Dabei ermittelte Kobik nicht nur gegen Pädophile, sondern – in enger Zusammenarbeit mit Ermittlern der BKP und aus dem Ausland – auch gegen Internetbetrüger. Doch in mehreren E-Mails ist zu lesen, wie sich die Polizeibehörden jeglicher Kooperation widersetzten.

Auch die Kantone bekamen das zu spüren. In einem Schreiben, das SonntagsBlick vorliegt, beschwerte sich Robert Steiner, Chef der Walliser Kriminalpolizei, 2015 beim damaligen Chef der BKP. Darin fordert er dringend Unterstützung im Kampf gegen Internetbetrüger, die – es ging um Millionen – Geld von Schweizer Firmen auf ihre Konten im Ausland transferierten. «Das Phänomen erfordert dringend die Koordination zwischen Kantonen und Fedpol», schrieb Steiner. Auch der Lenkungsausschuss Kobik mit Vertretern aus drei Kantonen intervenierte mehrfach bei BKP und Fedpol.

Erreichbarkeit war ein Thema

Im Jahresbericht des Kobik-Lenkungssauschusses vom Januar 2017 heisst es: «Die Situation ist unbefriedigend. Im Moment haben die Kantone einen nur beschränkt verlässlichen Partner im Bereich Cybercrime.» Kobik war monatelang nicht erreichbar, die Zuständigkeiten nicht geregelt.

Man sei mitten in einer Reorganisation, liess Fedpol-Direktorin Nicoletta della Valle 2017 ausrichten. Ein Organigramm von Mitte Februar zeigt: Kobik kommt im neuen BKP-Organigramm nicht mehr vor. Künftig jedoch solle die neu strukturierte BKP mit einem neuen Cybercrime-Zentrum, so das Papier, «wieder mindestens dieselbe Verfügbarkeit und Unterstützung wie ehemals Kobik leisten».

Fedpol-Sprecherin Cathy Maret bekräftigt dies auf Anfrage. Sie räumt ein, «dass die Erreichbarkeit einzelner Personen während der Reorganisation Thema war». Von Unmut bei internationalen Partnern habe Fedpol jedoch nichts erfahren.
Dass es im Rahmen des Umbaus der BKP zu Problemen kam, bestreitet die Behörde nicht: Die Phase habe «ein bisschen mehr als anderthalb Jahre gedauert».

BKP-intern wird der Schaden nun zumindest kommunikativ eingegrenzt

Trotz aller Bemühungen, stets offen, transparent und nachvollziehbar zu kom­munizieren, werde es immer Mitarbeitende geben, die das alte Modell besser fänden, so Maret. Aber: «Wir sind vom Gegenteil überzeugt. Mit dem neuen Kompetenzzentrum haben wir die Dienstleistungen für unsere kantonalen und nationalen Partner verbessert.»

Der Berner Regierungsrat Christoph Neuhaus (51, SVP) vertritt die Kantone im Leitungsausschuss Kobik. Dass die Reorganisation so lange dauerte, schreibt er dem Umstand zu, dass «Kompetenzen zwischen Kantonen und dem Bund nicht immer klar sind». Wichtig sei, dass Doppelspurigkeiten eliminiert würden.

BKP-intern wird der Schaden nun zumindest kommunikativ eingegrenzt. So wies eine Abteilungschefin auf Anordnung des neuen Chefs Yanis Callandret (42) alle Ex-Mitarbeiter an, sich bereitzuhalten. Grund dafür sei der Unmut der Kantone, dass Kobik-Dienstleistungen angeblich nicht mehr zur Verfügung stünden. Bei Erkundigungen der Kantone solle man jedenfalls «den Ball flach halten».
Erst im März werde über den Stand der Reorganisation informiert, wie Roger Schneeberger als Vertreter der Kantone auf Anfrage sagt: «Dem Vorstand und dem Plenum der KKJPD werden in den kommenden Sitzungen im März und April 2018 entsprechende Anträge unterbreitet.»

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