Irak: 3,5 Millionen Kriegsvertriebene im eigenen Land
«Wir sind die Ersten an der Front»

Katharina Ritz, IKRK-Delegationschefin im Irak, berichtet über zunehmende Gewalt gegenüber medizinischen Einrichtungen und darüber, wo Hilfe greift und wo nicht.
Publiziert: 03.05.2016 um 00:00 Uhr
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Aktualisiert: 11.09.2018 um 18:40 Uhr
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«Heute haben die Leute kein Geld mehr, um bis nach Europa zu fliehen.» Katharina Ritz
Foto: PHILIPPE ROSSIER
Hannes Britschgi

Das IKRK hat die Bombardierungen des Al-Quds-Spitals in Aleppo aufs Schärfste verurteilt. Sind Angriffe auf medizinische Einrichtungen heute Teil der Kriegsstrategie?

Katharina Ritz: Auch im Irak sind Spitäler unter Beschuss. Im kürzlich von der irakischen Armee zurückeroberten Stadt Ramadi ist das Spital total zerstört. Wir beobachten, dass medizinische Strukturen von allen Seiten vermehrt unter Feuer kommen. Deshalb intervenieren wir intensiv bei den Kriegsparteien, damit sie die medizinischen Helfer und deren Einrichtungen respektieren.

Irak ist ein Land im Krieg.

Die militärische Rückeroberung der vom IS kontrollierten Gebiete prägt die aktuelle Lage. Es herrscht Krieg. Es gibt Tote, Verwundete und viele Flüchtlinge. Unter den Rückkehrern in zurückeroberte Gebiete sind viele Minenopfer zu beklagen.

Was ist die Aufgabe des IKRK in dieser Situation?

Das IKRK kümmert sich vor allem um das Wohl der betroffenen Zivilisten. Wir diskutieren mit den Armeen und bewaffneten Gruppen über deren Kriegsführung, über Gefangenenbesuche und wir verhandeln mit ihnen über den Zugang zu den vom IS kontrollierten Gebieten.

Welche Prioritäten setzen Sie?

Es gibt zwei: erstens Zugang zu Zivilbevölkerung und Gefangenen und zweitens die Sicherheit unserer eigenen Teams, die täglich im Einsatz sind.

Wie ist die Situation der Kriegsvertriebenen?

Wir haben gleichzeitig neue Flüchtlinge und Leute, die nach Hause zurückkehren. Wir müssen alle begleiten. Das ist komplex. Wir reden von 3,5 Millionen Menschen. Die meisten Vertriebenen leben heute in Städten oder Vorstädten. Dort oft in Bauruinen.

Sind die Zustände vergleichbar mit denen in Syrien?

Da gibt es teils grosse Unterschiede. Praktisch ganz Syrien ist vom Konflikt betroffen. Hier im Irak sind die IS-Gebiete im offenen militärischen Konflikt: Bombardierungen, Granatbeschuss, Feuergefechte. Frontlinien sind abgeriegelt. Das ist für uns sehr gefährlich. Hier im Irak sind die IS-Gebiete abgeschottet. Raus kommen nur Flüchtlinge, die ihr Leben riskiert haben.

Wie hilft ihnen das IKRK?

2015 haben wir eine Million Flüchtlinge unterstützt. Je nach Region sieht die Hilfe ganz anders aus. Bei den einen geht es um Nahrung, bei anderen sind es eher Decken, Matratzen, Küchenutensilien und Öfen fürs Kochen.

Was macht das IKRK besser als andere Hilfswerke?

Wir sind so nahe wie möglich an den Frontlinien. Dort, wo die Leute wirklich rauskommen. Mit unseren zehn Büros im ganzen Land haben wir eine grosse Präsenz, sind oft die Ersten vor Ort – ausser in den Gebieten kontrolliert vom IS.

Das ist der blinde Fleck?

Leider ja. Bis Ende 2014 konnten wir noch Medikamente nach Mosul liefern und auch nach Falludscha. Wir hatten Kontakte mit den Spitälern und lokalen Behörden. Mit diesem Netzwerk konnten wir die Leute noch unterstützen.

Haben Sie aktuell Kontakte zur IS-Führung?

Nein, das haben wir heute nicht.

Wäre das nicht dringend nötig, um die humanitäre Mission in die IS-Gebiete zu bringen?

Diese Ambition besteht. Das IKRK hat in der Vergangenheit immer wieder bewiesen, dass es mit vielen Gruppen Kontakte aufbauen kann. Die Zivilbevölkerung in den IS-Gebieten hat das gleiche Recht auf humanitäre Hilfe wie alle andern auch.

Wie wird die europäische Flüchtlingssituation im Irak zur Kenntnis genommen?

Früher versuchten noch mehr Leute, sich nach Europa durchzuschlagen. Heute haben die Leute gar keine Mittel mehr. Wer heute vor dem IS flieht, kommt mit leeren Händen raus.

Möchten die Leute weg aus dem Irak, wenn sie denn die Mittel hätten.

Gründe gäbe es genug. Ich kenne das Land mittlerweile gut. Die Zerstörungen in den Städten und Dörfern sind massiv. In Ramadi ist die halbe Stadt zerstört. Es gibt keine Arbeit. Der Wiederaufbau des Landes wird viele Jahre dauern. Wir können nur den Staat unterstützen. Wir helfen beim Wiederaufbau eines Spitals, einer Wasserstation oder einer Elektrizitätsanlage.

Ein Leben für das IKRK

Seit 20 Jahren arbeitet Katharina Ritz (48) für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Heute leitet sie die grosse Delegation im Irak mit fast 1000 Leuten. Angefangen hat Ritz 1996 als Operationsschwester in einer Mission im Südsudan, später folgten solche in Afghanistan, Ruanda, Eritrea, Angola. 2003 wurde sie Delegierte im Management. Es folgten Einsätze in der Westbank, in der Zentralafrikanischen Republik, in Côte d’Ivoire, Irak und Libyen. 2015 machte sie den Master in ziviler Friedensförderung.

Seit 20 Jahren arbeitet Katharina Ritz (48) für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). Heute leitet sie die grosse Delegation im Irak mit fast 1000 Leuten. Angefangen hat Ritz 1996 als Operationsschwester in einer Mission im Südsudan, später folgten solche in Afghanistan, Ruanda, Eritrea, Angola. 2003 wurde sie Delegierte im Management. Es folgten Einsätze in der Westbank, in der Zentralafrikanischen Republik, in Côte d’Ivoire, Irak und Libyen. 2015 machte sie den Master in ziviler Friedensförderung.

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