Frau Schwager, letzten Sonntag zeigte die «Tagesschau», wie in Genf 2500 Menschen stundenlang für Gratisessen anstanden. Die meisten sollen Sans-Papiers gewesen sein. Sie leiten die Sans-Papiers-Anlaufstelle Zürich. Was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie die Bilder gesehen haben?
Bea Schwager: Ich war erschüttert. Solche Bilder ist man in der reichen Schweiz nicht gewohnt. Wirklich überrascht hat es mich aber nicht: Auch in Zürich bekommen wir mit, wie schwer es Sans-Papiers zurzeit haben.
Wieso ist die Situation für Sans-Papiers in der Corona-Krise so schwierig?
Viele arbeiten im Stundenlohn, leben von der Hand in den Mund. Und weil sie nun wegen Corona den Job verloren haben, kommt nichts mehr rein. Auf Ersparnisse können sie auch nicht zurückgreifen, da sie in normalen Zeiten nur 1000 bis 1500 Franken pro Monat verdienen. Staatliche Unterstützung ist in der Regel ebenfalls keine Option – sie sind offiziell ja gar nicht hier. Allerdings haben wir von den Städten Zürich und Uster und vom Kanton Zürich Gelder zur Nothilfe für Sans-Papiers erhalten.
Was passiert, wenn Sans-Papiers ins Spital müssen – sind sie versichert?
Die meisten Sans-Papiers können sich keine Krankenversicherung leisten. Im Kanton Zürich ist es deshalb so, dass sich die Spitäler an uns wenden, wenn einem Sans-Papier etwas zustösst. Wir versuchen dann, eine Lösung zu finden. In der Corona-Krise haben sich die Zürcher Stadtspitäler allerdings bereit erklärt, Sans-Papiers auch dann zu behandeln, wenn sie keine Krankenversicherung haben.
In Zürich, Bern und Basel werden auch Lebensmittel an Bedürftige verteilt. Bilder wie in Genf kennen wir in der Deutschschweiz aber nicht. Gibt es bei uns einfach weniger Sans-Papiers?
Schätzungen des Bundes gehen davon aus, dass es in der Schweiz insgesamt rund 90'000 Sans-Papiers gibt. Gemessen an der Bevölkerung sollen es in der Westschweiz etwas mehr sein als in der Deutschschweiz. Aber das ist nicht der Grund dafür, dass es bei uns nicht zu solchen Szenen kommt wie in Genf.
Woran liegt es dann?
In der Deutschschweiz würden sich Sans-Papiers niemals so exponieren. Bei uns haben die Leute Angst, stundenlang Schlange zu stehen. Sie meiden grosse Ansammlungen, weil sie befürchten, dass die Polizei auftauchen und sie verhaften könnte.
Diese Gefahr besteht doch auch in Genf …
Grundsätzlich schon. Aber in der Westschweiz laufen Sans-Papiers weniger Gefahr, von der Polizei kontrolliert, festgenommen und ausgewiesen zu werden. Generell ist die Toleranz gegenüber Migrantinnen und Migranten in der Romandie höher. Die Unterschiede sind eklatant: In der Westschweiz können sich Sans-Papiers relativ frei bewegen, in der Deutschschweiz dagegen führen die meisten Sans-Papiers ein überkorrektes Leben. Sie tun alles, um nicht aufzufallen.
Werden Sans-Papiers immer festgenommen und ausgewiesen – auch wenn sie bei einer Verkehrskontrolle auffliegen?
In der Regel schon. Denn wenn sie erst einmal in Polizeigewahrsam sind, bleibt meist zu wenig Zeit, um ein Härtefallgesuch zu stellen, mit dem eine Ausweisung unter Umständen verhindert werden könnte.
Wann werden solche Gesuche bewilligt?
Es gibt eine ausländerrechtliche und eine asylrechtliche Härtefallregelung. Bei einer asylrechtlichen Beurteilung sind die Chancen auf eine Aufenhaltsgenehmigung grösser, da Betroffene aus Krisengebieten stammen und die Frage der Wiedereingliederungsmöglichkeit im Herkunftsland eine grosse Rolle spielt. Dagegen haben ausländerrechtliche Härtefälle kaum Chancen auf ein Bleiberecht – auch wenn sie Jahrzehnte unauffällig hier leben und arbeiten. Zürich hat seit 2001 nur etwa 30 solcher ausländerrechtlicher Härtefallgesuche gutgeheissen.
Woher stammen diese Menschen, die kaum eine Chance auf ein Bleiberecht haben?
Die meisten aus Lateinamerika. Aber auch aus Asien und Afrika.
Und in welchen Branchen arbeiten sie?
Die Frauen sind meist in Privathaushalten tätig, als Putzfrau oder Kinderbetreuerin. Die Männer arbeiten oft in der Gastronomie, auf dem Bau oder auch als Landschaftsgärtner.
Wie findet man in der Schweiz ohne Papiere eine Stelle? Wer stellt Sans-Papiers ein?
Meist sind es kleine Firmen. Auf dem Bau zum Beispiel Sub-Sub-Subunternehmer. In Privathaushalten wiederum arbeiten die Sans-Papiers meist nur zwei, drei Stunden pro Woche im gleichen Haushalt. Alles läuft informell und irregulär – Schwarzarbeit eben. Die meisten Jobs werden durch Mund-zu-Mund-Propaganda vergeben.
Gibt es keine Kontrollen?
Das hängt von der Branche ab. Auf dem Bau zum Beispiel wurde in den letzten Jahren mehr kontrolliert. Dadurch ist es für Firmen, die sogenannte Schwarzarbeiter beschäftigen, schwieriger geworden. Die Sans-Papiers wurden deshalb teilweise von günstigen Arbeitskräften aus Spanien und Portugal verdrängt. Das sind EU-Bürger, die regulär eingestellt werden können.
Was passiert mit Firmen, die Sans-Papiers beschäftigen und auffliegen?
In der Regel erhalten sie eine bedingte Geldstrafe. Es kommt aber darauf an, wie schwerwiegend der Verstoss war. Teilweise erhalten Sans-Papiers von ihren Arbeitgebern auch Sozialversicherungsbeiträge bezahlt. Es ist in der Schweiz auch ohne Aufenthaltsbewilligung möglich, eine Sozialversicherungsnummer zu bekommen. Das ist dann sogenannte Grauarbeit.
In Genf wurde 2017 die «Opération Papyrus» ins Leben gerufen, die Sans-Papiers legalisieren soll. Wie beurteilen Sie das Projekt?
Das hat viele aus der Irregularität geholt. Zudem wurden dadurch klare Richtlinien geschaffen, unter welchen Umständen jemand eine Chance auf eine Aufenthaltsbewilligung hat. Die Betroffenen sind nicht mehr von einem ungewissen Härtefall-Entscheid abhängig. Eine solche Regularisierung von Sans-Papiers wäre für die ganze Schweiz wünschenswert. Zahlreiche europäische Länder haben kollektive Regularisierungsprogramme durch-geführt. In der Schweiz scheint eine solche Lösung zurzeit aber politisch ausgeschlossen.