IKRK-Chef Peter Maurer über die Syrienkrise, das Elend der Bevölkerung und Erdogan
«Wir müssen uns mit der türkischen Armee arrangieren»

Hunderttausende Kurden sind vor der türkischen Militäroffensive in Nordsyrien geflohen. Doch IKRK-Präsident Peter Maurer kann der Armeepräsenz auch Gutes abgewinnen.
Publiziert: 19.11.2019 um 23:03 Uhr
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Aktualisiert: 29.09.2020 um 20:52 Uhr
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Sorgenkind Syrien: Im Bürgerkriegsland versucht IKRK-Präsident Peter Maurer Leid zu mildern.
Foto: Philippe Rossier
Fabienne Kinzelmann

Syrien ist sein budgetmässig grösster Einsatz – und eine seiner grössten Sorgen: Der Schweizer Diplomat Peter Maurer steht seit sieben Jahren dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) vor. Fast so lange wie der Bürgerkrieg in Syrien bereits andauert.

Vor sechs Wochen zog US-Präsident Donald Trump seine Truppen in Nordsyrien ab – und machte den Weg frei für seinen türkischen Amtskollegen. Hunderttausende Kurden, enge Verbündete des Westens im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat, flohen vor Erdogans Militäroffensive. BLICK traf den IKRK-Präsidenten zum Gespräch in Zürich.

Herr Maurer, wie geht es den Menschen in Nordsyrien?
Peter Maurer: Manche wurden zum zweiten, dritten, vierten Mal vertrieben. Mit jeder Vertreibung wird die Situation noch ein bisschen schwieriger: In den Camps können sie sich ja keine ökonomische Existenz aufbauen. Wer nicht arbeiten kann, wird immer abhängiger von humanitärer Hilfe. Immerhin: Nachdem sich die Türkei und Russland geeinigt haben, sind einige wieder zurückgekehrt.

Erdogans und Putins Kompromiss sorgt für Stabilität

Die Türkei hatte am 9. Oktober gemeinsam mit protürkischen und islamistischen Milizen eine Militäroffensive gegen die Kurdenmiliz YPG begonnen, nachdem die USA ihre Truppen aus Nordsyrien abgezogen hatten. Dies stiess international auf scharfe Kritik, weil die Kurden enge Verbündete des Westens im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien waren.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (65) und Russlands Staatschef Wladimir Putin (67), Verbündeter von Syriens Präsident Bashar al-Assad (54), vereinbarten Ende Oktober in Sotschi gemeinsame Patrouillen in Nordsyrien, um den Abzug der Kurdenmiliz aus dem Gebiet zu überprüfen.

Die Türkei hatte am 9. Oktober gemeinsam mit protürkischen und islamistischen Milizen eine Militäroffensive gegen die Kurdenmiliz YPG begonnen, nachdem die USA ihre Truppen aus Nordsyrien abgezogen hatten. Dies stiess international auf scharfe Kritik, weil die Kurden enge Verbündete des Westens im Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in Syrien waren.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan (65) und Russlands Staatschef Wladimir Putin (67), Verbündeter von Syriens Präsident Bashar al-Assad (54), vereinbarten Ende Oktober in Sotschi gemeinsame Patrouillen in Nordsyrien, um den Abzug der Kurdenmiliz aus dem Gebiet zu überprüfen.

Viele Syrer sind gut ausgebildet, hatten ordentliche Berufe und ein anständiges Einkommen. Jetzt ist ein Ende des Kriegs nicht in Sicht, Ihr Einsatz könnte noch Jahrzehnte dauern.
Viele sagen ja, man soll nicht helfen, solange die Machtverhältnisse so sind, wie sie sind. Wir sind der Meinung, man muss helfen, um zu stabilisieren.

Wie machen Sie das?
Es ist eine unserer zentralen Aufgaben, dass wir Hoffnung aufrechterhalten. Hinhören, was Probleme sind, und wie wir allenfalls zu einer Lösung beitragen können. In Syrien ist für viele das Hauptproblem, dass sie Familienmitglieder vermissen. Sie wissen nicht mal, ob sie umgekommen sind. Das IKRK unternimmt grosse Anstrengungen für Familienzusammenführungen.

Momente der Hoffnung in einer schwierigen Zeit.
Viele Probleme, mit denen wir in Syrien konfrontiert sind, sind Probleme, mit denen wir uns schon länger beschäftigen: unauffindbare Personen, Familienzusammenführungen, Gefängnisbesuche, der Versuch, minimale Lebensumstände zu verbessern. Die Frage, was Leute bedrückt und was ihnen Hoffnung macht, ist in der Schweiz eine andere als in Homs.

Die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer hat als Reaktion auf den türkischen Einmarsch vorgeschlagen, die Sicherheit in der Region durch die Nato sicherzustellen. Was halten Sie davon?
Aus unserer Perspektive kann ich nur sagen: Armeen, welche das humanitäre Völkerrecht respektieren und in unsicheren Regionen stabilisierend wirken, sind positive Elemente, um unsere Arbeit zu befördern.

Die Kurden in Nordsyrien fürchten Erdogans Angriffe.
Was wir in Syrien sagen können: Wir haben viel Armeepräsenz mit dem Willen, das Völkerrecht zu respektieren. Zur Bilanz von einzelnen Armeen äussere ich mich nicht.

Mit der türkischen Armee kam in Nordsyrien ein neuer Akteur dazu. Haben Sie erst mal einen Antrittsbesuch bei Präsident Erdogan gemacht?
Vielleicht nicht gerade bei Präsident Erdogan, aber so läuft das eigentlich schon. Wir haben einen pragmatischen Ansatz: Wir arrangieren uns für unsere Arbeit mit den militärischen und zivilen Kräften vor Ort. Und wenn sich eine Situation ändert, dann ändern sich auch unsere Gesprächspartner.

Wie gesprächsbereit erleben Sie die Türkei?
Ich will den Tag nicht vor dem Abend loben, aber wir haben durchaus konstruktive Gespräche mit der türkischen Regierung. Aber wie das immer in so komplexen Situationen ist: Die genauen Rahmenbedingungen, wie wir dann genau an welchen Orten arbeiten können, dauern dann bisweilen ein bisschen.

Was ist die Herausforderung?
Die Situationen werden immer komplizierter: Von 90 Konflikten auf der Welt, die wir beobachten, ist nur ein Drittel zwischen zwei Kriegsparteien. Bei zwei Dritteln sind es mindestens drei. Bei etwa zwölf, fünfzehn Prozent sogar mehr als zehn Konfliktparteien. Wenn Sie jetzt einen Raum haben und Sie müssen von A nach B gehen, dann ist die Chance gross, dass Sie zwischen fünf und zehn Kommandostrukturen auf dem Weg haben, welche ein Stück Territorium, Zivilbevölkerung und Infrastrukturen beherrschen.

Karriere-Diplomat und oberster Helfer

Peter Maurer (63) kam 1956 in Thun zur Welt. Nach einem Studium der Geschichte und des internationalen Rechts in Bern, das er mit einem Doktorat abschloss, trat er 1987 in den diplomatischen Dienst ein.

Nach verschiedenen Führungsposten übernahm er im Jahr 2000 die Abteilung Menschliche Sicherheit im EDA. 2004 wurde er Botschafter und ständiger Vertreter der Schweiz bei den Vereinten Nationen in New York.

Im Januar 2010 machte ihn Micheline Calmy-Rey zum Staatssekretär, dem höchsten Beamten im EDA. Am 1. Juli 2012 übernahm Peter Maurer das Amt des IKRK-Präsidenten als Nachfolger von Jakob Kellenberger.

IKRK-Präsident Peter Maurer.
MARTIAL TREZZINI

Peter Maurer (63) kam 1956 in Thun zur Welt. Nach einem Studium der Geschichte und des internationalen Rechts in Bern, das er mit einem Doktorat abschloss, trat er 1987 in den diplomatischen Dienst ein.

Nach verschiedenen Führungsposten übernahm er im Jahr 2000 die Abteilung Menschliche Sicherheit im EDA. 2004 wurde er Botschafter und ständiger Vertreter der Schweiz bei den Vereinten Nationen in New York.

Im Januar 2010 machte ihn Micheline Calmy-Rey zum Staatssekretär, dem höchsten Beamten im EDA. Am 1. Juli 2012 übernahm Peter Maurer das Amt des IKRK-Präsidenten als Nachfolger von Jakob Kellenberger.

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