Hinterbliebene des Flugzeugabsturz von Würenlingen AG wollen Gerechtigkeit
«Der Bundesrat führte uns gezielt in die Irre»

Im Jahr 1970 schloss SP-Aussenminister Pierre Graber einen brisanten Deal mit palästinensischen Terroristen: Sie hatten einen Swissair-Jet zum Absturz gebracht. Nun erheben Hinterbliebene der 47 Opfer schwere Vorwürfe.
Publiziert: 24.01.2016 um 00:07 Uhr
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Aktualisiert: 10.09.2018 um 19:35 Uhr
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21. Februar 1970: Armee, Polizei und Freiwillige durchkämmen die Absturzstelle in Würenlingen AG. 47 Menschen starben beim Anschlag auf Swissair-Flug 330.
Foto: Keystone, Andreas Eggenberger, Gian Marco Castelberg/13 Photo
Roland Gamp

Als Erstem wurde Werner Gimmi (†37) klar, dass etwas nicht stimmt. Auf den Bordinstrumenten sah der Mechaniker, dass der Druck im Laderaum abfiel. Er warnte den Kapitän von Swissair-Flug 330, gerade von Zürich nach Tel Aviv gestartet. Doch es war zu spät – Minuten später zerschellte die Coronado im Unterwald bei Würenlingen AG. 47 Menschen starben. Man schrieb den 21. Februar 1970.

«Ich besuche den Unglücksort auch heute noch», sagt Doris Gimmi (80). Sie verlor beim Absturz ihren Ehemann. Seinen Tod habe sie in den Jahrzehnten seitdem verarbeitet. Eine Frage aber stellt sie sich noch immer: «Wa­rum wurden die Täter nie bestraft?»

Jetzt scheint die Antwort gefunden zu sein – nach beinahe 46 Jahren: Der NZZ-Journalist Marcel Gyr (54) enthüllt die politischen Hintergründe in seinem Buch «Schweizer Terrorjahre». Unter höchster Geheimhaltung hatte Bundesrat Pierre Graber (SP, 1908–2003) im Herbst 1970 ein Stillhalteabkommen mit der palästinensischen PLO geschlossen, jener Terrorgruppe, die Flug 330 mit einem an Bord geschmuggelten Sprengstoffpaket zum Absturz brachte.

Die PLO verpflichtete sich, in der Schweiz keine Anschläge mehr zu verüben. Im Gegenzug sollte die Schweiz die Palästinenser in der Uno etablieren – und die Attentäter von Würenlingen offenbar nicht verfolgen. «Das war ein Bestandteil des Abkommens», sagte Jean Ziegler (SP, 81) im BLICK. Später schwächte er diese Aussage ab, es handle sich nur um seine persönliche Einschätzung.

Der alt Nationalrat hatte damals den Kontakt zwischen Graber und der PLO hergestellt. Heute will er sich zum ersten Mal mit Hinterbliebenen treffen. Dem Vernehmen nach, um sich zu entschuldigen. Es sei gut, dass jetzt alles an die Öffentlichkeit komme. «Die Angehörigen haben ein Recht auf die Wahrheit», so Ziegler.

René Spahr (53) sass vor dem Fernseher, als ein Sprecher den Absturz bekannt gab. Wenig später war es traurige Gewissheit: Seine Tante, Flugbegleiterin Doris Rusca (†24), war an Bord der Unglücksmaschine.

«Wie sich im Nachhinein herausstellte, war bald klar, wer die Bombe gebaut hatte», sagt der Historiker. Der Bund aber liess die Angehörigen trotz Nachfragen im Unklaren. Die Verdächtigen wurden nie verhaftet, angeklagt oder vor den Richter geführt. «Stattdessen hat die Bundesanwaltschaft das Verfahren eingestellt. Die Angehörigen wurden darüber nicht einmal informiert.»

Wie andere Angehörige schickten Spahr und seine Brüder Briefe nach Bern, um zu erfahren, warum man die Täter laufen liess. Die letzte Antwort kam vor drei Jahren vom Bundesamt für Justiz. Es hätten zu wenige Elemente vorgelegen, um die Täter zu belangen. «Nun wird immer offensichtlicher: Die Hinterbliebenen wurden in die Irre geführt.»

Man habe die Anklage aus politischem Kalkül versanden lassen. Spahr empört: «Man kann doch nicht einen Massenmord in die Waagschale werfen, nur um einen Deal zu erhalten.»

Nach dem Absturz informierten Mitarbeiter der Swissair auch die Frau des Flugkapitäns Karl Berlinger (†46). «De Papa chunnt nieme hei», erklärte sie danach ihrem siebenjährigen Sohn Ruedi.

Heute, da der Absturz erneut in den Schlagzeilen ist, kommen die Erinnerungen zurück: «Trotzdem ist es sehr positiv, dass langsam die Wahrheit ans Licht kommt», sagt der 53-Jährige. Der Bund müsse den Fall jetzt neu aufrollen. «Für die Angehörigen ist die Geschichte erst abgeschlossen, wenn alle Fragen restlos beantwortet sind.»

Strafrechtlich ist der vielfache Mord nicht verjährt. Dennoch kommen die Täter wohl auch nach neusten Erkenntnissen ungeschoren davon. «Die Bundesanwaltschaft hat die Berichte und auch das Buch zur Kenntnis genommen», sagt Sprecherin Nathalie Guth. «Um eine Wiederaufnahme des Verfahrens überhaupt zu prüfen, müssten neue Beweismittel oder Tatsachen bekannt werden.» Die aber seien im Moment nicht erkennbar.

Politiker sehen das anders, wollen den Fall neu beleuchten (siehe unten). Für viele kommen diese Bemühungen zu spät.

Doris Bosshard-Kuhn verlor bei dem Anschlag ihren Gatten Hans Kuhn (†60). Der Pilot hatte für einen Uno-Einsatz nach Israel reisen wollen. Noch mit 95 Jahren rätselte sie in einem Dokumentarfilm der ARD  über das verschleppte Verfahren: «Ich kann nicht begreifen, dass nichts passiert ist.» Zwei Tage nach ihrem 100. Geburtstag verstarb sie – ohne je eine Antwort bekommen zu haben.

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