Nichts hat sich geändert, und doch ist alles anders. Als der Bundesrat vor eineinhalb Wochen erste Lockerungen der Notstandsmassnahmen ankündigte, war die Botschaft klar: Bürgerinnen und Bürger haben die Krise bis anhin gut gemeistert – aber wir müssen dranbleiben. Bitte zu Hause bleiben. Bitte Abstand halten.
Ebenso deutlich zeigte sich ein Stimmungsumschwung in der Bevölkerung. Mehr Menschen eilen auf einmal wieder ins Büro, treffen sich auf ein Glas Wein, zwei Meter Abstand schrumpfen auch mal auf einen, für die beste Freundin gibts eine Umarmung, mit den Kollegen im Park wird angestossen.
Nach über einem Monat im Lockdown ist das Bedürfnis nach einem Hauch von Normalität gross. Wobei sich viele zu fragen scheinen: Wie soll ich mich in diesem neuen Normalzustand verhalten? Ist es okay, die Grosseltern zu besuchen? Ein Grillfest im Garten zu veranstalten? Mehr Freunde zu sehen?
Umarmungen aber keine Küsschen
Anna Leclerc* (29) aus dem Kanton Zürich findet: ja. Die junge Frau trifft ihre Freunde gelegentlich zu einem Drink auf dem Balkon oder zum Filmabend auf dem Sofa. «Zwei Meter Abstand sind dabei nicht immer möglich», räumt sie ein. «Und wenn ich meine Freunde treffe, umarme ich sie auch.» Vorher habe man sich auch noch Küsschen gegeben, das lassen sie momentan aber bleiben.
Die Regeln des Bundes empfindet Anna Leclerc mittlerweile als zu grossen Eingriff in ihre Privatsphäre. «Ich hätte mir eher das Modell Schweden gewünscht», sagt sie. Die Regierung dort hat das öffentliche Leben kaum eingeschränkt, verzeichnet aber auch viel mehr Covid-19-Tote als die Schweiz. Anna Leclerc betont zwar, sie halte sich momentan an die maximale Gruppengrösse von fünf Personen: «Aber in meinem Umfeld wird die Ungeduld immer grösser.»
Für Yvonne Balmer (73) aus Bremgarten AG ist die aktuelle Situation schwierig. Trotzdem hält sie sich – zähneknirschend, wie sie sagt – an die Regeln. Die Seniorin verzichtet nicht nur auf Treffen mit ihrer Familie, sondern auch auf ihr geliebtes Hobby, das Theaterspielen. «Das fehlt mir sehr.»
«Situation schlägt mir auf die Psyche»
Ursula Blaser (58) aus Grenchen SO vermisst ihre Liebsten ebenfalls. «Am meisten zu schaffen macht mir, dass ich meine Enkelin Salima nicht sehen kann», sagt sie. Und dass sie das zweite Grosskind, das in wenigen Wochen zur Welt kommt, nicht wird begrüssen können. Dennoch hält sie sich weiterhin an die Verhaltensmassregeln des Bundes – auch, weil sie zur Risikogruppe gehört. «Aber die aktuelle Situation schlägt mir schon auf die Psyche», sagt sie.
Kein Wunder: Das Fehlen von körperlicher Nähe könne sich negativ auf unsere Gesundheit auswirken, sagt auch Psychologe Peter Flury-Kleubler. «Körperkontakt mit Menschen, denen wir vertrauen, gibt uns das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit.» Zudem wirke sanfter Körperkontakt wohltuend und beruhigend, baue Stress ab. «Das wiederum stärkt das Immunsystem.»
Auf Umarmungen verzichtet Ferdi (53) aus Frick AG zwar. Aber gemeinsam mit seiner Nachbarin Helene Müller Balz (73), die sich mit ihm an die Weisungen des Bundes hält, hat er einen Weg gefunden, füreinander da zu sein. «Wir essen jetzt ab und zu mit genügend Abstand gemeinsam im Garten», sagt er. Mal koche sie, dann er.
Die gemeinsamen Essen seien ihm wichtig, sagt Ferdi. Schliesslich sei Helene das gute Herz der Nachbarschaft.
Franziska Gieskes (57) aus Schneisingen AG nimmt die Weisungen des Bundes ebenfalls weiterhin ernst. Eine Ausnahme macht sie aber seit dieser Woche: Auf ihren Hundespaziergängen lässt sie sich wieder von der Tochter begleiten. «Dabei bleiben wir aber auf Distanz», versichert Gieskes.
Infektiologe beruhigt
Dass viele Schweizer offenbar weiterhin Vorsicht walten lassen, beruhigt den Infektiologen Hugo Sax, Leiter Spitalhygiene am Unispital Zürich. Denn jene, die es nicht tun, können zur Gefahr werden. Sax: «Das soziale Verhalten ist ansteckend – so ansteckend wie eine Infektionskrankheit.»
Der Mediziner ergänzt: Wenn man als Zuschauer eine Gruppe von fünf Menschen beobachte, die nahe beieinanderstehen und fröhlich plaudern, habe man das Gefühl: So schlimm kann die Situation nicht sein. «Diese Überlegung ist natürlich irrational», sagt Sax. «Aber der Vorgang läuft unbewusst ab: Das Bild der anderen autorisiert einen, selber ebenfalls so zu handeln.» Mit anderen Worten: Je weniger sich die Menschen an die Distanzregeln halten, desto mehr animieren sie andere, es ihnen nachzutun.
Der Infektiologe warnt ausdrücklich vor einem Gefühl falscher Sicherheit. «Einige sagen sich wohl: Es ist nicht so schlimm gekommen wie befürchtet.» Die Schlussfolgerung daraus dürfe aber nicht sein, in alte Muster zurückzufallen. «Sondern dass man die jetzigen Massnahmen weiterführt, weil sie ganz offensichtlich geholfen haben, die Epidemie einzudämmen.»
«Öffnung ist anspruchsvoller als Lockdown»
Tatsächlich stehe die eigentliche Herausforderung noch bevor, hält Sax fest: «Mit der Öffnung kommen wir in eine Phase, die anspruchsvoller ist als der Lockdown.»
Grünes Licht gibt der Infektiologe übrigens für den Kaffee mit der besten Freundin. Das sei kein Problem, «solange man nicht mit einem halben Meter Abstand drei Stunden lang gemeinsam auf dem Sofa sitzt und plaudert.» Auch ein Grillabend mit wenigen Freunden sei okay, sofern der Sicherheitsabstand eingehalten werde.
Die grosse Grillparty im Park allerdings ist riskant, und die Fünf-Personen-Regel gilt weiterhin, wie der Corona-Delegierte des Bundes, Daniel Koch, am Freitag festhielt. «Wir möchten nicht, dass die Fallzahlen wieder ansteigen.» Entscheidend sei deshalb das Verhalten der Bevölkerung, so Koch. «Nur wenn es gelingt, die Zahlen weiter zu drücken, wird es möglich, im Sommer zu einer Art Normalität zurückzukehren.»
* Name der Redaktion bekannt
Das Coronavirus beschäftigt aktuell die ganze Welt und täglich gibt es neue Entwicklungen. Alle aktuellen Informationen rund ums Thema gibt es im Coronavirus-Ticker.
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Der Bund erlässt bisher keine generelle Maskenpflicht. Aber er empfiehlt, sie in bestimmten Fällen zu tragen. Was ist dabei zu beachten? BLICK beantwortet die wichtigsten Fragen.
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