Dürfen wir noch sagen, was wir denken?
Jürg Halter (39), Schriftsteller und Speaker: Das Tragische ist ja, dass Menschen, die öffentlich laut sagen, sie dürfen nichts mehr sagen, ein System erträumen, in dem man tatsächlich nichts mehr sagen dürfte. Tragischer noch: Solche Menschen merken nicht, dass sie zuerst von ihren eigenen Träumen verarscht werden. Sagenhaft unsäglich. Und damit will ich nicht sagen, dass es keine – berechtigten oder unberechtigten – Konsequenzen hat, wenn man etwas Bestimmtes sagt. Die Meinungsfreiheit muss immer gewährleistet sein, aber wo Hetze und Hass anfangen, hört für mich die Meinungsfreiheit auf. Hass ist keine Meinung, jedenfalls keine, die noch irgendwelche andere Meinungen neben sich duldet. Wer seine Meinung sagt, muss auch damit umgehen können, dass andere widersprechen: Meinungsfreiheit bedeutet ebenso Meinungsvielfalt. Wer eine eigene Meinung hat, muss diese auch mit nachvollziehbaren Argumenten verteidigen können, sonst muss man leider davon ausgehen, dass er gar nicht weiss, wovon er spricht.
Gehen Frauen gestärkt aus der Krise raus?
Sibylle Stillhart (47), Autorin: Jetzt ist es augenfällig, dass der Begriff «Arbeit» neu überdenkt werden muss. Weil «Arbeit» nicht allein die «Erwerbsarbeit» umfasst, sondern auch ganz viele andere Tätigkeiten, ohne die eine Gesellschaft nicht überleben kann: Kinderbetreuung, Hausarbeit, die Pflege von Angehörigen, die auf Hilfe angewiesen sind. Es ist Arbeit, die hauptsächlich von Frauen erledigt wird. Zu Hause gratis, in den Institutionen schlecht bezahlt. Trotzdem tut Mann sich schwer damit, Kitas finanziell zu unterstützen. Trotzdem findet die Pflege-Initiative im Parlament nur wenig Unterstützung. Die Initiative will die Arbeitsbedingungen des Personals verbessern – aber offenbar soll Applaus allein genügen. Wie damals nach dem Zweiten Weltkrieg, als Mann den Frauen das Stimm- und Wahlrecht weiter vorenthielt, obwohl es Frauen waren, die dafür gesorgt hatten, dass es genug zu essen gab. Auch damals: Leere Worte als alleiniger Dank. Doch das genügt nicht. Schon gar nicht in einem Land, das sich nur übers Geld definiert. Wird nun, nach der Krise, vom Rentenalter 65 für Frauen abgesehen, weil ihre Renten nach wie vor nicht existenzsichernd sind? Wird nun, in der Diskussion um die 2. Säule, die unbezahlte Arbeit der Frauen berücksichtigt? Solche Schritte würden Frauen stark machen. Doch davon sind wir weit und breit entfernt.
Was denkt man in der Westschweiz nach der ersten Corona-Welle über die Deutschschweiz?
Thomas Wiesel (30), Westschweizer Comedian: Diese Pandemie hätte das Land einen können. Unter dem Motto: Alle gemeinsam besiegen wir dieses Virus! Aber die Einigkeit herrschte gerade mal ein, zwei Wochen. In der Deutschschweiz, mit vergleichsweise geringeren Opferzahlen, schien die Corona-Gefahr weniger nah, und die Lockdown-Massnahmen waren rasch umstritten. Ganz anders in der Romandie: Uns musste man nicht zweimal sagen, wir sollen nicht mehr zur Arbeit. Darauf haben wir reagiert wie die SVP auf die Grenzschliessungen: Wir fordern das seit Jahren! Dass die Romandie mehr Corona-Opfer hat, ist meiner Meinung nach ein geografischer Zufall: Frankreich und Italien waren stark betroffen, Deutschland und Österreich weniger. Die Ausbreitung des Virus beweist aber auch: Wir haben einen stärkeren Austausch mit unseren Nachbarn als innerhalb des Landes. Wenn bei der nächsten Pandemie wieder die Romandie stärker betroffen ist, fliehe ich ins Appenzell. Der Röstigraben ist der effizientere Virenschutz als eine FFP2-Maske. Uns ist klar, dass die Deutschschweizer glauben, die Pandemie besser kontrolliert zu haben als die lateinische Schweiz. Uns ist das egal. Wir trösten uns damit, dass es die Romandie besser gemacht hat als Frankreich und das Tessin besser als Italien. Das ist der eidgenössische Kompromiss! Am Ende sind alle zufrieden.
Haben wir nun einen geschärften Blick auf das, was wichtig ist im Leben?
Bruno S. Frey (79), emeritierte Professor für Wirtschaftswissenschaften und Glücksforscher: Ja, in zweierlei Hinsicht sehen wir klarer. Erstens: Unsere Demokratie ist nicht ganz so toll, wie viele – auch ich – dachten. Der Bundesrat hat mit erstaunlicher Leichtigkeit ausserhalb der Verfassung handeln können. Das Parlament hat als Aufsichtsorgan versagt; die Kantone haben sich gefügt. Die bundesrätlichen Massnahmen wurden als alternativlos präsentiert; es gab keine Diskussion unterschiedlicher Auffassungen. Viele Leute sehen nun, dass wir dies in der Zukunft anders handhaben müssen. Zweitens: Die Marktwirtschaft hat gut funktioniert, insbesondere kam es nie zu einem Nahrungsmittelmangel. Die anfangs fehlenden Masken und Schutzkleidungen sind der Regierung anzulasten, welche die gesetzlichen Vorgaben zur Vorratshaltung nicht erfüllte. Die nächsten Generationen werden erleben, dass die wirtschaftliche Tätigkeit nur zu gewaltigen Kosten (Arbeitslosigkeit, Staatsschuldenberge) durch den Staat abgewürgt werden kann. In Zukunft sollte auf eine solche Politik verzichtet werden.
Sollen wir uns je wieder zur Begrüssung küssen?
Dania Schiftan, Sexual- und Psychotherapeutin: Das ist eine spannende Frage. Ich finde die Idee schön, dass man sich bewusst überlegen darf, wen man küssen möchte und wen nicht. Es ist so eine krasse Regel, dass man jeden küsst, ob es einem dabei wohl ist oder nicht. Dabei überschreiten viele Menschen ihre eigenen Grenzen. Wenn es wegen des Virus, also quasi von aussen her, nicht mehr erlaubt ist, gibt es einem die Gelegenheit, selber zu entscheiden und auf sein Gefühl zu hören. Das finde ich schön, und ich erhoffe mir, dass viele Leute mitnehmen, dass sie bewusster entscheiden und überlegen, wen sie in ihren persönlichen Raum von den 1,5 Metern lassen und wen nicht.
Was ist noch lustig?
Patti Basler (44), Bühnenpoetin und Kabarettistin: Lustig ist, dass der Chef Koch geht und die Frau Amherd zurückbleibt.
Lustig ist, dass links-grüne Kabarettisten ohne Führerschein jetzt in Autokinos auftreten.
Lustig ist, wenn Eltern letztes Jahr die Anmeldeformulare für ein mögliches Homeschooling bestellt haben. Und diese jetzt nach zwei Monaten Shutdown klammheimlich zusammen mit stornierten Reiseplänen ins Altpapier geben.
Lustig ist, dass Abstand der neue Anstand ist und kein Abstand der neue Aufstand.
Lustig ist, wenn das Erotikgewerbe noch vor den Theatern wieder öffnet, trotz erschwerender Abstandsregeln. Wahrscheinlich, weil das Contact Tracing da einfach funktioniert. Prostituierte können gleich mit der DNA im Gummitütchen zum BAG marschieren.
Lustig ist meist das, was gar nicht lustig sein will. Ausser Trump. Der ist inzwischen zum traurigen Clown geworden. Das ist nicht mal mehr lustig.
Wann kommt der erste Corona-Roman?
Franz Hohler (77), Schriftsteller: Das dauert wohl noch ein bisschen. Aber wer weiss, ob als Erstes ein Roman kommt: Der Stoff taugt auch für ein Theaterstück oder einen Essay – man sieht schon jetzt, was für ein Mitteilungsbedürfnis er auslöst. Vielleicht wäre die Sicht einer Krankenpflegerin interessant. Aber es könnte auch jeder und jede andere sein – vom Sargschreiner, der Überstunden machen musste, bis zur Coiffeuse, die ihre Arbeit verloren hat. Ich weiss noch nicht, ob ich selber etwas zu Corona schreibe. 1973 habe ich übrigens eine Ballade geschrieben («Strandgut»), in der ein Koffer aus dem Mittelalter an Land gespült wird, der das Virus einer grauenhaften Seuche enthält. Vielleicht sollte am besten später jemand über Corona schreiben, der das alles gar nicht erlebt hat. Denken Sie nur daran, wie viele Bücher noch jetzt mit Schicksalen aus dem Zweiten Weltkrieg gefüllt werden.
Sind wir nun alle bessere Köche?
Tanja Grandits (50), Basler Spitzenköchin und Koch des Jahres: Ich denke, dass sehr viele von uns nach der Krise nun bessere Köche sind. Selber zu kochen, ist in der Zeit des Lockdowns zum zentralen Thema in sehr vielen Haushalten geworden. In diesem Frühjahr wurde zu Hause definitiv so viel gekocht wie noch nie. Mich freut das natürlich sehr, weil ich davon überzeugt bin, dass frisch gekochtes Essen und auch schon das Kochen selber glücklich machen. Und am meisten hat mich gefreut, wie viele Menschen mir gesagt und geschrieben haben, wie sehr sie mein «Tanjas Kochbuch» (vom Glück der einfachen Küche) in dieser Zeit geschätzt haben. Viele haben das ganze Buch durchgekocht – das ist für mich das allerschönste Kompliment.
Brauchen wir in Zukunft weniger Bürohäuser?
Benedikt Loderer (75), Architektur-Publizist: Wenn schon, brauchen wir die vorhandenen weniger. Die aber haben wir schon. Was können wir damit tun? Wohnungen daraus machen? Geht schlecht, weil das zu teuer ist. Mein Vorschlag: Die Mieten so weit senken, dass sich dort Kreativ- und Erfindergewerbe einnisten kann. Leer stehen und vergammeln lassen geht auch. Beides kommt langfristig aufs Gleiche heraus: Die Grundstückspreise sinken. Die Schweiz kriegt die Auszehrung.
Werden Sie je wieder unbekümmert ein Corona-Bier trinken können?
Gabriela Gerber (47), erste Schweizer Bier-Sommelière: Der Begriff «Corona» wird über Generationen in unserem Gedächtnis bleiben. Das Bier mit gleichem Namen bleibt dabei unschuldig, und wir werden es weiter trinken. Wenngleich das mexikanische Bier mit wenig typischen Ausprägungen von Malz und Hopfen für einige Konsumenten an Unbekümmertheit verloren hat und keinen Siegerplatz bei den Corona-Gewinnern einnehmen kann. Der grosse Gewinner der Krise ist das alkoholfreie Bier. Es hat sich in dieser ausserordentlichen Zeit den Kultstatus gesichert. In der Schweiz wurde noch nie so viel alkoholfreies Bier gekauft wie während des Lockdowns, einer Zeit, in der besonders viel Wert auf gesunde, ausgewogene Ernährung gelegt wurde. Schweizerinnen und Schweizer haben den heimischen Gerstensaft ohne Alkohol als natürliche Alternative zu Softdrinks und anderen Getränken schätzen gelernt.
Sind wir toleranter geworden?
Thomas Meyer (46), Schriftsteller: Schön wärs! Corona hat uns gezeigt, worauf es wirklich ankommt: auf die körperliche und seelische Gesundheit des Einzelnen, auf eine wirklich solidarische Gesellschaft und auf einen Staat, der nicht den Profit begünstigt, sondern Schwache und Arme schützt. Wir müssten jetzt sofort ein bedingungsloses Grundeinkommen einführen und dafür sorgen, dass alle Menschen gesünder leben, auch psychisch. Zum Beispiel, indem die zerstörerische Landwirtschaft durch eine naturnahe ersetzt wird. Und indem an den Schulen über Ernährung geredet wird. Und indem nur noch biologische Lebensmittel überhaupt verkauft werden. Und indem moderne Arbeitsmodelle gefördert werden. Stattdessen diskutieren wir nur über den wirtschaftlichen Schaden der Krise und darüber, dass Bill Gates uns alle zwangsimpfen will. Nein, wir sind nicht toleranter geworden. Wir sind behämmerter denn je.
Hat sich unser Essverhalten verändert?
Daniel Messerli (55), Ernährungsberater: Das Problem ist wohl eher, dass es sich nicht verändert hat. Viele haben während des Lockdowns einfach weiterhin so gegessen wie vor Corona, sich aber gezwungenermassen weniger bewegt. Dem entgegenzuwirken, wird für diejenigen, die weiterhin im Homeoffice arbeiten, eine Herausforderung bleiben. Für sie entfällt das Pendeln mit den ÖV zur Arbeit und das Herumlaufen im Büro. Statt beim Business-Lunch mit einer Portion vorliebnehmen zu müssen, können sie zu Hause so lange nachschöpfen, wie sie wollen. Der Kühlschrank ist immer in Reichweite, die Nahrung darin oft unausgewogen. Ich empfehle Homeoffice-Arbeitenden Gerichte mit viel Gemüse, hohem Protein- und tiefem Kohlenhydratanteil. Zum Beispiel Tortillas aus drei Eiern pro Person. Mit viel Gemüse drin wie Frühlingszwiebeln, Zucchetti, Tomaten, allenfalls Kartoffeln. Dazu einen schönen Salat.
Wird es vermehrt Ausstellungen geben, die man nicht physisch besuchen muss?
Dominik Landwehr (61), Kultur- und Medienwissenschaftler: Davon bin ich überzeugt. Schon vor der Corona-Krise haben Institutionen wie das Schweizer Nationalmuseum mit digitalen Vermittlungsformen wie virtuellen Rundgängen experimentiert. Der Lockdown hat hier einen neuen Schub gegeben. Museen haben ihre digitalen Projekte beschleunigt oder sich auf neue Formen eingelassen. Das Spektrum reicht von Audio-Podcasts über Videostreams bis hin zu Virtual-Reality-Projekten oder sogenannten Digitorials. Das sind Websites oder Apps, die alle möglichen digitalen Formen kombinieren und komplett selbständig, also ohne die eigentliche Ausstellung, funktionieren. Das Dogma bisher hiess: Digitale Formen können die Begegnung mit der realen Welt nicht ersetzen. Ich glaube, dass das bald nicht mehr stimmen wird. Es gibt Inhalte, die lassen sich digital einfach besser vermitteln. Dank Virtual Reality kann man zum Beispiel die zerstörten Tempel von Palmyra wieder sehen. Kultur wird in Zukunft ganz anders sein, und ich freue mich auf Überraschungen. Es geht nicht um ein Entweder-oder, sondern um ein Sowohl-als-auch. Ich glaube aber, dass das alles nicht von heute auf morgen geschehen wird, zumal die Kulturszene recht konservativ ist.
Haben wir weniger, dafür engere Freunde?
Bettina Schindler (59), Psychologin: Ich würde diese Frage grundsätzlich mit Ja beantworten, denn äussere Gefahren lassen uns zusammenrücken. Durch den Lockdown wurde bestimmt in vielen Familien der Zusammenhalt gestärkt, ebenso die Enge zu Freunden. Auch wenn man sich nicht sehen konnte, konnten doch viele Telefongespräche mit engen Freunden zu Nähe und Solidarität führen. Hingegen fielen ja alle Anlässe wie Partys etc. weg, an denen man weniger enge Freunde hätte treffen können. Allerdings gilt die Zunahme der Enge von Freundschaften nur für Menschen, die diese Freunde bereits hatten und über ein gutes soziales Netz verfügten. Wer vor Corona schon eher viel alleine war und wenig Freunde hatte, wurde noch mehr in die Einsamkeit gedrängt. Es ist zu hoffen, dass die Erfahrung von Nähe und Solidarität in Freundschaften auch nach der Corona-Zeit erhalten bleibt.
Wie wird sich das Vereinsleben ändern?
Roman Oester (36), Jungwacht Blauring Schweiz: Jungwacht Blauring (Jubla) lebt vom Zusammensein. Während der Corona-Krise konnte dieses – immerhin ein Grundsatz des Kinder- und Jugendverbands – nur digital ausgelebt werden und vor allem in Form von #jublazuhause. Die Wiederaufnahme der Jubla-Aktivitäten wird für alle ein grosses Ereignis sein, gerade die bevorstehenden Sommerlager werden mit grosser Vorfreude erwartet. Kurzfristig sind die nötigen Massnahmen im Rahmen der Schutzkonzepte sicher eine Herausforderung, doch die Jubla hat schon während des Shutdowns bewiesen, wie unglaublich kreativ und engagiert sie auf die Situation reagiert hat. Nicht nur in der Jubla, sondern auch in der ganzen Bevölkerung dürften gewisse Hygiene- und Abstandsregeln einen nachhaltigen Effekt haben und ein stärkeres Bewusstsein dafür vorhanden sein.
Wie haben sich unsere Freundschaften verändert?
Dr. Wolfgang Krüger (72), Psychotherapeut und Freundschaftsexperte: Freundschaften sind die Basis für das Lebensglück, und wer sie pflegt, lebt 20 Prozent länger. Doch wie kann man in Zeiten von Corona diese Freundschaften pflegen? Schliesslich müssen wir eine Abstandsregel von 1,50 Metern einhalten, die im Mittelalter bei Fremden üblich war, gegen die man sich notfalls mit dem Schwert wehren konnte. Doch Freunde muss man gelegentlich sehen, man muss sie gleichsam spüren, um sie zu verstehen. Dennoch haben unsere Herzensfreundschaften Corona gut überstanden. Man konnte telefonieren, skypen und die Distanz mit anteilnehmenden Worten überbrücken. Weil viele Abwechslungen fortfielen, hatte man mehr Zeit, sich stärker für diese wenigen Freunde zu interessieren und ihnen tiefgründige Fragen zu stellen. Dadurch verbesserten sich diese Herzensfreundschaften, auf die wir in Zeiten äusserer Bedrohungen so sehr angewiesen sind. Allerdings verflachten die Freizeitfreundschaften und die Gelegenheitsbeziehungen, weil es keine Anlässe gab, sich zu sehen. Und so gilt: Die guten Freundschaften wurden besser, die Durchschnittsfreundschaften schlechter.
Freundschaft: beginnen - verbessern - gestalten; Krüger, Wolfgang