Der Anruf kam um zwei Uhr in der Früh. In jener Nacht auf Samstag, den 6. September 1980, hatte ich Reporter-Pikett. Am Vorabend war die TV-Sendung «Aktenzeichen XY ungelöst» in die Stuben geflimmert. Gefahndet wurde dort nach dem 21-jährigen Nicholas E.*. Mit einem Komplizen hatte der Koch des autonomen Zürcher Jugendzentrums (AJZ) aus einem Baugeschäft im Sarganserland 192 Stangen Sprengstoff geklaut.
Er wollte zuerst 5000 Franken für ein Interview
Das AJZ stand damals im Fokus der gewalttätigen Opernhauskrawalle, die zwei Jahre lang die Limmatstadt beherrscht hatten. Zu den Unruhen war es gekommen, weil die «bewegte» Jugend nicht tolerierte, dass das Opernhaus einerseits mit 60 Millionen Steuergeldern unterstützt wird, andererseits kein Geld für ein Jugendzentrum zur Verfügung stand.
Am Draht meldete sich ein Kollege des Gesuchten. Er bot mir ein Interview mit dem flüchtigen Nicholas E. an – das geforderte Honorar für das Gespräch: 5000 Franken. Nach Rücksprache mit der Chefredaktion handelte ich den Betrag auf 500 Franken herunter.
So traf ich kurze Zeit später, in einem Zürcher Park, auf Nicholas E. und seine Entourage. «Ja, da bin ich nun», empfing mich ein Bursche mit dunklen gekrausten Haaren nervös rauchend. Er hatte bereits erfahren, dass er über «XY» gesucht wird. «Einerseits war ich stolz, aber kriegte auch mächtig Panik.»
Nicholas E. erklärte mir seine Motivation für den Sprengstoff-Diebstahl. Er habe vernommen, dass das AJZ geschlossen werde, dann hätte er seine Stelle als Koch verloren und wäre mittellos geworden. «Es wurde darüber gesprochen, bei einem Politiker und einem Staatsanwalt Sprengstoff zu legen. So hätten wir vielleicht Geld fürs AJZ erpressen können. Dies war natürlich ein ‹Seich›». Sie hätten nicht einmal gewusst, wo diese Personen wohnten. Vorbild sei für ihn die westdeutsche RAF-Terrorszene gewesen. «Ich dachte, was die können, kann ich auch», meinte er naiv.
Die Polizisten liefen wie Hühner durcheinander als sie Nicholas E. erkannten
Ich riet ihm dringend, sich zu stellen. Er war einverstanden. Bevor ich den Gesuchten bei der Kriminalpolizei ablieferte, zeigte er mir noch, wo sie unter der Zürcher Europabrücke den Sprengstoff versteckt hatten. Der lag längst bei der Polizei, die kurz zuvor einen Komplizen des Gesuchten geschnappt hatten. Ich erinnere mich noch, wie die Polizeidetektive wie ein Haufen Hühner durcheinander liefen, als sie sahen, wen ich ihnen da gebracht hatte. Vor den Augen der Beamten übergab ich Nicholas E. 250 Franken für das Interview, die zweite Hälfte sollte er nach Verbüssung seiner Gefängnisstrafe erhalten.
Dieser Vorgang landete sogar in meiner Staatsschutzfiche, die ich 1990 mit geschwärzten Stellen erhielt. Die Fiche nahm Bezug auf einen Polizeirapport in Sachen des Sprengstoffdiebes. Darin wurde erwähnt, ich hätte ihn zur Polizei gebracht, nachdem ich ihm 500 Franken versprochen hätte. Eine seltsame Auslegung der Schlapphüte.
Vom Sprengstoffdieb zum Berufseinbrecher
Jahre später begegnete ich Nicholas E. vor dem Zürcher Obergericht. Dort stellte sich heraus: Der Sprengstoff-Diebstahl war nicht das einzige Delikt des Kochs. Seine Anklageschrift umfasste rund 300 Seiten, bei denen 473 Einbrüche aufgelistet waren. «Es ist einfach eine Sucht», versuchte er sich den Richtern zu erklären. Diese machten nicht lang Federlesens und verknackten ihn zu fünf Jahren Knast. Wegen des Sprengstoffs war er mit zehn Monaten bedingt noch mit einem blauen Auge davongekommen.
Ich hätte gerne nochmals mit ihm gesprochen. Doch Nicholas E. starb im Strafvollzug an einer Überdosis Heroin. Welch ein verpfuschtes Leben.
*Name geändert