«Wirtschaftshooligans ignorieren die Fakten»
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Gerichtspsychiater Urbaniok:«Wirtschaft ist für die Menschen da und nicht umgekehrt»

Gerichtspsychiater Frank Urbaniok (57) über menschliches Verhalten während der Pandemie
«Wirtschaftshooligans ignorieren die Fakten»

Der bekannteste Schweizer Gerichtspsychiater, Frank Urbaniok (57), hat ein Buch über die Schwächen der menschlichen Vernunft und ihre schädlichen Nebenwirkungen geschrieben. Der selbständige Gutachter und Berater ist überzeugt, dass wir der Pandemie Herr werden können.
Publiziert: 27.07.2020 um 07:49 Uhr
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Aktualisiert: 27.07.2020 um 12:03 Uhr
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Urbaniok: «In dieser Krise zeigen sich viele dieser Mechanismen vergrössert wie unter einer Lupe. Wir sehen, wie fragil unser globales Wirtschaftssystem ist.»
Foto: Thomas Meier
Interview: Dammann Viktor

Der bekannteste Schweizer Gerichtsgutachter beschäftigt sich nicht nur mit gefährlichen Straftätern. In seinem neusten Buch analysiert Frank Urbaniok (57) gesellschaftliche Fehlentwicklungen. In diesem Zusammenhang befasst er sich auch mit den Auswirkungen der Corona-Krise und deren Bewältigung. Er sieht die Gefahr, dass bei den gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen vor allem die kleinen Leute auf der Strecke bleiben.

BLICK: In Ihrem neuen Buch «Darwin schlägt Kant» schreiben Sie über die Schwachstellen der menschlichen Vernunft und die gesellschaftlichen Folgen. Wo sehen Sie diese?
Frank Urbaniok:
Der Evolution geht es nicht darum, die Wirklichkeit zu erkennen, sondern nur um die Überlebensfähigkeit einer Art. In der Urzeit war es wichtig, schnell zu entscheiden und sofort zu handeln, um zu überleben. Deswegen sind in unseren Verstand Automatismen eingebaut, die zu verzerrten Beurteilungen führen.

Zum Beispiel?
Wir mögen eindeutige und bequeme Geschichten, die zu unseren Überzeugungen passen. Oft nach dem Motto: Schwarz–weiss, entweder … oder. Häufig hat die gefühlte Wahrheit mehr Gewicht als objektive Tatsachen.

Dies zeigt sich auch jetzt in der Corona-Krise. Warum?
In dieser Krise zeigen sich viele dieser Mechanismen vergrössert wie unter einer Lupe. Wir sehen, wie fragil unser globales Wirtschaftssystem ist, Verschwörungstheoretiker haben Konjunktur und vieles mehr.

Am Freitag meldete das Bundesamt für Gesundheit mit 154 Neuinfektionen den höchsten Wert für den Juli. Was sagen Sie dazu?
Das ist die Quittung für Leichtsinn und Sorglosigkeit bestimmter Personengruppen in den letzten Wochen.

Sie sagen aber auch, die Wissenschaft ist fehleranfällig.
Sie hat grosses Potenzial, und wissenschaftliche Fakten sollten nicht ignoriert werden. Aber auch hier kommt es zu falschen Schlussfolgerungen. Man hat uns zum Beispiel wochenlang erzählt, es sei nicht bewiesen, dass Masken den Maskenträger schützen. Das Fehlen eines wissenschaftlichen Beweises darf aber kein Killerargument sein.

Was meinen Sie damit?
Manchmal ist gesunder Menschenverstand ausreichend, um eine Sache zu beurteilen. Es gibt keine streng wissenschaftliche Untersuchung darüber, ob es bei einem Sprung aus einem Flugzeug in 10'000 Meter Höhe gesünder ist, mit oder ohne Fallschirm zu springen. Aber auch ohne Studie rate ich jedem, der das vorhat: Springen Sie mit Fallschirm!

Nützen Masken nun dem Träger?
Mittlerweile gibt es Studien, die zeigen, dass das Ansteckungsrisiko verringert wird. Aber wen kann das überraschen?

Wir werden mit Informationen und täglich neuen Zahlen überflutet.
Das stimmt. Manche haben aber ein Problem, den Verzögerungseffekt zu verstehen. Infektionszahlen von heute, sind die Infektionen von vor rund einer Woche, die Spitaleinweisungen von morgen und die Toten von übermorgen. Deswegen ist es so wichtig, vorausschauend zu agieren.

Wie geht es weiter?
Niemand kann das mit Sicherheit sagen. Aber einiges wissen wir: Komplikationen und tödliche Verläufe sind häufiger als zum Beispiel bei einer normalen Grippe. Die Pandemie kann so ausser Kontrolle geraten, dass das Gesundheitssystem zusammenbricht. Spätestens wenn das passiert und sich die Särge stapeln, wird jeder Staat in die Knie gezwungen. Die Kunst ist es, eine gute Balance zwischen wirksamen, aber verhältnismässigen Massnahmen zu finden.

Ist das bis jetzt gut gelungen?
Man sollte sicher nicht auf die extremen Meinungsäusserungen, sondern auf die besonnenen Stimmen hören. Zum Beispiel haben sich einige Wirtschaftshooligans lautstark zu Wort gemeldet. Ihr Credo: Herdenimmunität, denn es sterben ohnehin «nur» die Alten, die sowieso nicht mehr lange zu leben hätten. Diese Position ignoriert die oben genannten Fakten. Schlimmer finde ich aber, wie da über Senioren geredet wird.

Was stört Sie daran?
Jeder Bürger unseres Landes hat das gleiche Recht auf körperliche Unversehrtheit. Das ist aber nur die Spitze des Eisbergs eines zum Teil fehlenden Respekts im Umgang mit älteren Menschen. Zudem darf man an Folgendes erinnern: Wirtschaft ist sehr wichtig. Aber Wirtschaft ist kein Selbstzweck. Wirtschaft ist für die Menschen da und nicht umgekehrt.

Kritiker sagen, wegen so geringer Sterberaten kann man doch nicht die ganze Bevölkerung zum Maskentragen verdonnern.
Klar geht es um Verhältnismässigkeit. Ein Beispiel: Zuletzt gab es in der Schweiz noch 187 Verkehrstote. Um diese Zahl gering zu halten, werden alkoholisierte Fahrer und Raser zum Teil happig gebüsst. An Covid-19 sind bislang in der Schweiz 1686 Personen gestorben. Wenn bei solchen Zahlen eine Maskenpflicht unverhältnismässig sein soll, dann könnte man mit dem gleichen Argument augenblicklich fast alle Verkehrsregeln abschaffen.

Kriegen wir die Pandemie in den Griff?
Ich bin überzeugt, dass wir das können. Aber es braucht kluges Handeln und die Bereitschaft aller, Verantwortung zu übernehmen. Denn es wird noch längere Zeit eine Hängepartie bleiben. Vor allem muss darauf geachtet werden, dass bei den wirtschaftlichen wie auch den gesundheitlichen Folgen nicht vor allem die kleinen Leute ohne grosse Lobby auf der Strecke bleiben.

«Darwin schlägt Kant»

«Darwin schlägt Kant» heisst das neue Buch des renommierten Gerichtsgutachters Frank Urbaniok (57). Darin setzt er sich mit den Schwächen der menschlichen Vernunft und ihren fatalen Folgen auseinander. Urbaniok leitete für den Justizvollzug des Kantons Zürich bis 2018 die fachspezifische Behandlung von gefährlichen Straftätern. Verlag Orell Füssli, ISBN: 978-3-280-05722-3. Preis Fr. 35.90 inkl. MwSt.

«Darwin schlägt Kant» heisst das neue Buch des renommierten Gerichtsgutachters Frank Urbaniok (57). Darin setzt er sich mit den Schwächen der menschlichen Vernunft und ihren fatalen Folgen auseinander. Urbaniok leitete für den Justizvollzug des Kantons Zürich bis 2018 die fachspezifische Behandlung von gefährlichen Straftätern. Verlag Orell Füssli, ISBN: 978-3-280-05722-3. Preis Fr. 35.90 inkl. MwSt.


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