Aktentaschen und Tramgebimmel: Am Zürcher Paradeplatz wuselt der Feierabend. Doch in dem Glaswürfel, der seit Montag neben dem Junobrunnen steht, ist der Tag noch lange nicht zu Ende. Immer wieder bleiben die Pendlerinnen und Pendler stehen, werfen einen Blick durch die Scheibe. In die 25 Quadratmeter, auf denen diese Woche eine Geschäftsidee entsteht.
«Wir leben, arbeiten und schlafen im Würfel, 24 Stunden am Tag», sagt Yuwei Liu (25), die an der ETH Zürich Management, Technologie und Ökonomie studiert. Gemeinsam mit vier anderen Studierenden entwickelt sie diese Woche ein System, das die Krankenakten von Diabetes-Patientinnen digitalisieren und so ihre Behandlung vereinfachen soll.
Die Hälfte der Diabetiker weiss nichts von der Erkrankung
Vier Teams aus je fünf freiwilligen Studierenden knobeln beim Projekt «Incube» der Studentenorganisation ETH Entrepreneur Club innerhalb einer Woche an Lösungen für existierende Probleme herum. Die Würfel stehen auf öffentlichen Plätzen: zwei in Zürich, einer in Basel, einer in Lausanne VD. Firmen wie Aveniq, Roche, Iqvia, Siemens, Microsoft und die Schweizerische Post sponsern einen Würfel. Im Gegenzug geben die Firmen ein Thema vor, das sie derzeit beschäftigt. Ende der Woche wird das beste Projekt mit 2500 Franken gekürt.
Der Würfel am Paradeplatz ist mit eindrucksvollen Zahlen bedruckt: 500’000 Schweizerinnen und Schweizer haben Diabetes. Rund 460’000 davon sind an Typ-2-Diabetes erkrankt, bei der Körper nicht mehr genügend Insulin produziert oder nicht mehr richtig auf das produzierte Insulin reagiert. Besonders tückisch: Rund 50 Prozent der Betroffenen wissen nichts von ihrer Erkrankung.
«Es ist ein sehr wichtiges gesellschaftliches Thema», sagt Liu, deren Grosseltern beide Diabetes haben. Die Behandlung der chronischen Krankheit erfordert meist eine lebenslange medizinische Betreuung mit zahlreichen beteiligten Parteien: Spitäler, Ärzte, Diabetologinnen. «Wir wollen diese Woche eine digitale Lösung finden, um die Kommunikation zwischen den Parteien zu vereinfachen.»
Im Würfel ausserhalb der Komfortzone
Mit dem Projekt will Organisatorin Natalie Kallay (25) vom ETH Entrepreneur Club zeigen, wie schnell man eine gute Start-up-Idee entwickeln kann. Sie will junge Menschen dazu inspirieren, die Angst vor Niederlagen abzulegen und das unternehmerische Risiko einzugehen. «Noch sind wir nicht eingeschränkt von den eher starren Strukturen der Businesswelt. Diese unvoreingenommene Kreativität sollten wir nutzen.»
In einem Start-up lerne man, aktiv und flexibel zu werden, Ideen schneller umzusetzen, aber auch, sie schneller wieder über den Haufen zu werfen. Die besten Ideen entstünden in Extremsituationen, sagt Kallay. Diese wollten sie und ihr Team in den Glaswürfeln kreieren. «Wenn niemand anders da ist, dem wir ein Problem überlassen können, wir komplett in ein Thema eintauchen und eine Deadline haben, sind wir zwar ausserhalb unserer Komfortzone – doch genau da werden wir kreativ.»
Aber was, wenn inmitten all der Kreativität die Natur ruft? «Gleich am Paradeplatz hat es öffentliche Toiletten und Duschen», sagt Kallay und lacht. «Es gibt wirklich für fast alles eine gute Lösung.»