Heidi-Milchprodukte im Supermarkt, Heidi-Puppen, Heidi-Filme, die Raststätte Heidiland - das in den 1880er Jahren von der Zürcher Autorin Johanna Spyri kreierte Waisenmädchen ist auch 140 Jahre später omnipräsent. Und seine Darstellung tatsächlich oft ein Alptraum, wie der Dokumentarfilm von Anita Hugi zeigt.
Heidi wurde über die Jahrzehnte mit so vielen marketingwirksamen Klischees dekoriert, dass kaum jemand mehr weiss, wer das eigentliche Mädchen wirklich war. «Heidi war mutig, unerschrocken, offen, ein unternehmungslustiger Typ.» So hat die Macherin des Films die Romanfigur aus ihrer Kindheit in Erinnerung. «Sie hat mich inspiriert.»
Hugi spricht von der Heidi im ersten Roman. Jener, die bei ihrem Grossvater, einem Aussenseiter, in den Bergen lebte. Und zwar ausserhalb des Dorfes, ausserhalb der Gesellschaft sogar, denn Heidi ging auch nicht zur Schule. Sie liebte die Natur und was sie wissen musste, lernte sie von ihr. Das alles änderte sich im zweiten Buch, einer Auftragsarbeit, wie man in «Heidis Alptraum» erfährt.
Spyris Geschichte war derartig erfolgreich, dass eine Fortsetzung mehr als nur erwünscht war. Allerdings passierte mit dem Druck von Aussen dann auch gleich eine «Wiedereingliederung ins System» von Heidi und ihrem Grossvater, wie Hugi erzählt. Von der in «Heidi» erkennbaren Persönlichkeit der Autorin, die sich mitunter durch ihre Sehnsucht nach der Natur und den Wunsch, aus der Gesellschaft auszubrechen auszeichnete, war nicht mehr viel zu erkennen.
Wer Johanna Spyri war, weiss kaum jemand. «Es gab bisher keinen einzigen Dokumentarfilm zu ihrem Werk und Leben», so Anita Hugi. Und auch sonst sei die Zürcher Autorin (1827-1901) «vollkommen hinter ihrer Figur verschwunden». So ist beispielsweise weitgehend unbekannt, dass Johanna Spyri neben «Heidi» weitere 48 Geschichten geschrieben hat.
Einerseits lag das an ihr selbst. Sie war eine zurückhaltende Frau, hat einen grossen Teil ihrer Korrespondenz verschwinden lassen, wie im Pressedossier zum Film zu lesen und im Film in Animationen zu sehen ist. Doch Anita Hugi hat einige Briefe finden können, die sie in «Heidis Alptraum» von Schauspielerin Marthe Keller vorlesen lässt. Die Schriften verraten etwa, dass Spyri die Idee, dass eine Biografie über sie erscheinen sollte, unverständlich fand.
Anita Hugi glaubt aber auch, dass man gar nie mehr über die Frau hinter Heidi hat wissen wollen. Schon Petra Volpe, die das Drehbuch zum Kinofilm von 2015 schrieb und in «Alptraum Heidi» vorkommt, hatte Mühe, etwas über sie herauszufinden.
Es ist nicht das erste Mal, dass Hugi prägende Frauen in Form eines Films sichtbar macht. 2012 lancierte sie die Reihe «Cherchez la femme» zu Künstlerinnen wie Meret Oppenheim oder Sophie Taeuber-Arp. Und als Direktorin der Solothurner Filmtage lancierte sie ein mehrjähriges filmhistorisches Programm zu Schweizer Filmpionierinnen und das Projekt «Her Story Box», das die Arbeit der Filmpionierinnen ins Zentrum stellte.
Mit grossem Enthusiasmus erzählt Anita Hugi nun von Johanna Spyri. So ansteckend – der Film selber trägt seinen Teil dazu bei – dass man am liebsten sofort die alten «Heidi»-Bücher aus dem Regal holen will. «Während der Pandemie haben das viele getan», weiss die Filmemacherin. Und vielleicht werde das Werk Spyris durch «Heidis Alptraum» noch weiter erkundet.
Wichtig sei, dass man sich von der aus heutiger Sicht etwas «ältlichen Sprache» nicht beirren lasse. Die Geschichten bieten laut Hugi viel Raum für freies Erzählen. «Johanna Spyri hatte eine unglaublich spannende und auch moderne Art zu denken und zu schreiben.» Ausserdem habe sie viel von Dramaturgie verstanden, so Hugi. «Sie wäre eine grossartige Drehbuchautorin gewesen.»
Dass die Veröffentlichung von «Heidis Alptraum» fast gleichzeitig wie jene der Horror-Komödie «Mad Heidi» erfolgt, «ist ein glücklicher Zufall». Dieser zeige die Kraft der Geschichte, den Mythos und einmal mehr, wie präsent die Heidi-Figur bis heute ist. In Hugis Film ist Heidi aber letztlich nur der Pfad, der zu Johanna Spyri führen soll. Die Filmemacherin ist überzeugt, dass jetzt ein öffentliches Interesse und «vielleicht sogar ein politischer Druck» für Geschichten für das grosse Wirken ungesehener Frauen vorhanden sei.
Die TV-Premiere von «Heidis Alptraum» ist am 27. November in den Sternstunden von SRF (12.00 Uhr) sowie online auf srf.ch/kultur zu sehen, begleitet von einem Themenschwerpunkt zu Heidi. Im Frühjahr 2023 läuft der Film auf Arte.
(SDA)