Film
Ein ambivalenter Justizfall aus dem Jahr 1904 kommt ins Kino

Frieda Keller war Näherin aus St. Gallen; 1904 wurde sie als Kindsmörderin verurteilt. Der Fall sorgte schweizweit für Aufsehen. Regisseurin Maria Brendle hat ihr Schicksal verfilmt. Jetzt läuft «Friedas Fall» in den Kinos.
Publiziert: 09:24 Uhr
Frieda Keller wurde 1904 als Kindsmörderin verurteilt. Ihr Kind hatte sie getötet, weil es bei ihrer Vergewaltigung gezeugt worden war. Dieser Justizfall, der in der Schweiz breit diskutiert wurde, liegt dem Spielfilm "Friedas Fall" zugrunde. Er läuft jetzt in den Deutschschweizer Kinos.
Foto: Handout: Filmstill "Friedas Fall
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SDASchweizerische Depeschenagentur

Es regnete in St. Gallen. Oder eher: es goss in Strömen. Es tropfte von den altertümlichen Schirmen, und das Make-up musste ständig erneuert werden, auch die Kleider waren irgendwann völlig durchnässt. Es ist Herbst 2023, der 25. Drehtag für das Gesellschaftsdrama «Friedas Fall». Auf dem Klosterplatz wird die allererste Szene gedreht.

Dieser historische, düstere Fall kam überhaupt nur ins Rollen, weil der Regen einen Leichnam zu Tage gefördert hat: Ernstli, der fünfjährige Sohn von der Näherin Frieda Keller. 1904 tötete sie ihr Kind und verscharrte den Körper im Wald. Frieda war vergewaltigt und das Kind dabei gezeugt worden.

In jener ersten Filmszene, in der es schüttet, sieht man den jungen Anwalt Arnold Janggen (Max Simonischek), der Frieda Keller verteidigen wird, sowie den gesetzestreuen Staatsanwalt und Gefängnisdirektor Walter Gmür (Stefan Merki). Später werden ihm Landjäger vom grausigen Fund berichten.

Mit «Friedas Fall» hat die Regisseurin Maria Brendle ein wahres Schicksal verfilmt. Brendle, im deutschen Singen geboren, arbeitet als Filmemacherin in Deutschland und der Schweiz. Sie hat einen der berühmtesten Fälle in der Schweizer Justizgeschichte aufgegriffen.

Es geht um Scham, Ethik und Moral. Ein tiefgründiger Fall, der Debatten über Frauenrechte und eine gerechtere Gesellschaft ausgelöst hat. Und: Er hat die Entwicklung des Strafrechtssystems in der Schweiz massgeblich beeinflusst. So wurden etwa die Definitionen von Mord und Totschlag im Schweizer Strafgesetzbuch überarbeitet.

Den Stoff hat die Schweizer Autorin und Filmregisseurin Michèle Minelli in ihrem historischen Roman «Die Verlorene» (2015) aufgearbeitet; an «Friedas Fall» hat sie als Co-Autorin des Drehbuchs mitgearbeitet. An diese Vorlage hat sich die Regisseurin Maria Brendle weitgehend gehalten. Aber sie hat auch Platz gelassen für neue Figuren: Erna Gmür zum Beispiel, die mit dem Staatsanwalt eine ungewollt kinderlose Ehe führt.

Für Frauen gebe es immer noch zu wenig interessante und schöne Rollen, begründete Maria Brendle im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Frauen dürften nicht nur Beiwerk sein, auch wenn die Geschichte von Frieda Keller via Männer der Justiz erzählt werde. «Im Rahmen, in dem sie agieren können, wollte ich das aufzeigen.» Für gewiefte Frauenfiguren gebe es trotzdem Platz. «Vielleicht», so Brendle, «wäre ja Erna Gmür zum Beispiel auch gerne Staatsanwältin geworden. Das blieb ihr verwehrt. Eine starke Figur ist sie trotzdem».

Trotz Neuinterpretation von Figuren - «Friedas Fall» ist ein schwerer Stoff. Warum tut sich Maria Brendle das an? «Ich mag es, an wahren Geschichten zu arbeiten. Man hat Leitpfosten, aber man muss sich doch überlegen, welche Charaktere dahinterstehen.»

Die Regisseurin und ihr Team haben versucht, Leichtigkeit in die Figuren hineinzubringen. Wie beispielsweise beim Ehepaar Gmür. Die beiden führten ja auch ein Leben ausserhalb des Falles. «Ich habe versucht, sie in unterhaltsamen Rollen spielen zu lassen.»

Genau wie die Autorin Michèle Minelli sagte auch Maria Brendle, der Stoff sei an sie herangetragen worden - und habe sie sofort fasziniert. Etwa, wie Frauen verurteilt und beurteilt wurden und immer noch werden, ohne gross in den Menschen hineinzuschauen.

Der eigentliche Prozess zu Beginn des 20. Jahrhunderts löste einen Medienhype aus, es wurde überregional darüber berichtet. Das rief Frauen wie Helene von Mülinen auf den Plan, eine treibende Kraft der organisierten Schweizer Frauenbewegung, und mit ihr viele Frauenvereine. Die heftigen Proteste der Bevölkerung erreichten, dass Frieda Keller, zuerst zum Tode verurteilt, «begnadigt» wurde - zu lebenslanger Zuchthausstrafe in Einzelhaft. Nach heutigem Rechtsverständnis wäre das Folter.

Aus heutiger Sicht eine Schande ist nicht nur die bigotte Begnadigung, sondern auch die Tatsache, dass ihr Vergewaltiger, ein Ehemann und Wirt, nie zur Rechenschaft gezogen wurde. Das damalige Gesetz schützte Verheiratete, die sich an Frauen vergriffen.

War Frieda also mehr Opfer als Täterin? Maria Brendle relativierte: «Die Frage bleibt offen, die Ambivalenz zwischen Opfer und Täterin bleibt immer bestehen. Bei aller Sympathie, die man für Frieda entwickeln kann: Sie hat ein schweres Verbrechen begangen.» Es sei Brendle wichtig, aufzuzeigen, dass Frieda Keller Täterin sei und Opfer, auch jener Zeit und Umstände.

Die Schauspielerin und St. Gallerin Julia Buchmann spielt Frieda Keller. Bei der Arbeit mit ihr, habe es viele Gänsehautmomente gegeben, sagte Maria Brendle. Unter anderem sei es gerade die Ambivalenz in ihrer Rolle, die den Film trage.

Auch St. Gallen, als Ort des Geschehens und wo der tragische Fall der Näherin bekannt ist, trägt zum atmosphärischen Gelingen bei. Viele Schauplätze, wie die Altstadt, der Klosterplatz oder das Gefängnis, haben sich in den vergangenen hundert Jahren kaum verändert - seit die Stadt, ihre Bewohnerinnen und Bewohner durch Friedas Fall aufgewühlt worden sind.*

*Dieser Text von Nina Kobelt, Keystone-SDA wurde mithilfe der Gottlieb und Hans Vogt-Stiftung realisiert.

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