Für die Schweiz könnte in Brüssel bald ein richtig rauer Wind wehen. Zwar sind noch nicht alle Stimmen ausgezählt, doch der Kampf um Brüssels Top-Job läuft auf Hochtouren. Denn: Die Amtszeit von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker (64) endet spätestens am 31. Oktober.
Für die Schweiz steht dabei viel auf dem Spiel. Die Kommission kann in Brüssel Gesetze vorschlagen und ist für die Rahmenabkommens-Verhandlungen mit der Schweiz zuständig. Juncker busselte zwar fleissig mit den Bundesräten, verhandelte aber in Sachen Rahmenabkommen hart. Ergebnis: ein Entwurf, der im Schweizer Parlament höchst umstritten ist.
Favorit Weber nicht mehr in der Pole-Position
Bislang galt der deutsche CSU-Politiker Manfred Weber (46), Spitzenkandidat der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP), als Favorit für die Juncker-Nachfolge. Für die Schweiz wäre er kein angenehmer Kommissionschef. Im Wahlkampf kündigte er an, härtere Saiten aufziehen zu wollen, und erklärte: Er werde es nicht länger dulden, wenn man ständig gegen Brüssel stänkere, aber alle Vorteile geniessen wolle. Gut für die Schweiz: Weber ist umstritten, weil er bisher nie in Regierungsverantwortung stand.
Seit einigen Wochen fällt darum auch immer wieder der Name von Brexit-Chefverhandler Michel Barnier (68), wenn es um die Juncker-Nachfolge geht. Er wird in Brüssel als Joker gesehen, wenn sich die anderen Kandidaten gegenseitig blockieren. Der ehemalige französische Aussen- und Agrarminister ist ein strenger Verhandler. Auch er würde wohl eine härtere Gangart gegenüber Bern einlegen.
Wird es ein Niederländer?
Europas Sozialdemokraten haben mit dem niederländischen Ex-Aussenminister Frans Timmermans (58) einen deutlich regierungserfahreneren Spitzenkandidaten aufgestellt, als Weber es ist. Er ist seit 2014 Junckers Stellvertreter und hat alle bisherigen Verhandlungen mit der Schweiz mitgetragen. SP-Nationalrat Fabian Molina (28) zeigt sich BLICK gegenüber dennoch begeistert: «Timmermans hat immer wieder von einem europäischen Mindestlohn gesprochen. Das heisst, er hat grosses Verständnis für unsere Sorgen um den Lohnschutz.»
Die anderen Parteien sind deutlich zurückhaltender. SVP-Nationalrat Alfred Heer (57) sagt: «Ob Weber oder Timmermans den Posten übernimmt, ist für die Schweiz Hans was Heiri. Bisher hat keiner der beiden gross Verständnis für die Schweiz gezeigt.» Vertreter der CVP und Grünen äussern keine Präferenz. FDP-Chefin Petra Gössi (43): «Wichtig ist mir, dass es eine offene Person ist, die sich für die Bedürfnisse und die Ausgangslage der Schweiz interessiert.»
Dabei wird in Brüssel noch ein weiterer Name gehandelt, der für die Schweiz von Interesse sein dürfte: die liberale EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager (51). Sie hat sich mit einem harten Vorgehen gegen Marktmissbrauch und Steuervermeidung durch US-Riesen wie Google oder Apple einen Namen gemacht. Dafür gab es für die frühere dänische Wirtschafts- und Innenministerin Lob von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron (41). Vestager rückt auch deswegen in den Fokus, weil die Liberalen dank deutlicher Sitzgewinne nun die drittstärkste Fraktion im Europaparlament sind.
Schwierige Findungsphase
Kandidaten für Brüssels Top-Job brauchen nicht nur Unterstützung von mindestens 21 der 28 Staats- und Regierungschefs, sondern müssen auch im EU-Parlament auf eine Mehrheit kommen. Doch das EU-Parlament ist nach der Europawahl zersplittert, die Volksparteien kommen zusammen nicht mehr auf eine Mehrheit. Das gestaltet die Suche nach dem nächsten Kommissionspräsidenten besonders schwierig.
Wer am Schluss EU-Kommissionspräsident wird, ist also noch völlig offen. Heute finden erste Beratungen statt. Eines scheint klar: Die steife Brise aus Brüssel, die der Schweiz aktuell entgegenbläst, wird bleiben.