Im Kampf gegen die Corona-Wirtschaftskrise haben sich die EU-Staaten auf das grösste Haushalts- und Finanzpaket ihrer Geschichte geeinigt. Der Kompromiss wurde nach mehr als viertägigen Verhandlungen am frühen Dienstagmorgen bei einem Sondergipfel in Brüssel von den 27 Mitgliedsstaaten angenommen, wie Ratschef Charles Michel auf Twitter mitteilte. Zusammen umfasst das Paket 1,8 Billionen Euro – davon 1074 Milliarden Euro für den nächsten siebenjährigen Haushaltsrahmen und 750 Milliarden Euro für ein Konjunktur- und Investitionsprogramm gegen die Folgen der Pandemiekrise.
Mit dem Finanzpaket will sich die Europäische Union gemeinsam gegen den historischen Wirtschaftseinbruch stemmen und den EU-Binnenmarkt zusammenhalten. Gleichzeitig soll in den Umbau in eine digitalere und klimafreundlichere Wirtschaft investiert werden. Dafür werden erstmals im grossen Stil im Namen der EU Schulden aufgenommen, das Geld umverteilt und gemeinsam über Jahrzehnte getilgt.
Merkel: «Haben uns am Schluss zusammengerauft»
Bundeskanzlerin Angela Merkel hat sich erleichtert über die Einigung beim Corona-Krisengipfel der EU gezeigt. Es sei darum gegangen, Entschlossenheit zu zeigen. «Aussergewöhnliche Ereignisse, und das ist die Pandemie, die uns alle erreicht hat, erfordern auch aussergewöhnliche neue Methoden», so Merkel. Es habe entsprechend aussergewöhnlich lange gedauert. «Das war nicht einfach», räumt die CDU-Politikerin am Dienstagmorgen zum Abschluss des am Freitag begonnenen Gipfels in Brüssel ein. Für sie zähle aber, dass man sich am Schluss zusammengerauft hätte.
«Der Haushalt ist ausgerichtet auf die Zukunft Europas», sagte die Kanzlerin. Es gehe aber auch darum, dass der Binnenmarkt in einer der schwersten Krisen der Gemeinschaft weiter funktionieren könne. Sie sagte «sehr schwierige Diskussionen» mit dem Europaparlament voraus.
Macron jubelt auf Twitter
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat die Einigung beim EU-Gipfel auf das Haushalts- und Finanzpaket als grosse Leistung gewürdigt. Macron schrieb am frühen Dienstagmorgen auf Twitter: «Historischer Tag für Europa!» Der Franzose hatte sich gemeinsam mit Kanzlerin Merkel für das milliardenschwere Programm gegen die Corona-Krise eingesetzt.
Auch EU-Ratschef Charles Michel hat die Einigung auf das Milliardenpaket gegen die Corona-Krise als einen entscheidenden Moment für Europa bezeichnet. «Das ist ein guter Deal, das ist ein starker Deal, und vor allem ist dies der richtige Deal für Europa jetzt», sagte Michel am frühen Dienstagmorgen in Brüssel. Es gehe hier nicht nur um Geld. Die Vereinbarung sei auch ein Zeichen des Vertrauens für Europa und die Welt.
Conte sieht Wiederaufbauplan als ehrgeizig
EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen sagte, Europa habe immer noch den Mut und die Fantasie, gross zu denken. «Wir sind uns bewusst, dass dies ein historischer Moment in Europa ist.» Es gelinge Europa, nach intensivem Ringen kraftvoll zu antworten.
Italiens Regierungschef Giuseppe Conte hat die Einigung und den Wiederaufbauplan als ehrgeizig und «sehr konsistent» gelobt. «Wir sind zufrieden», sagte er am Dienstagmorgen. Der Deal entspreche den enormen Herausforderungen der Krise. «Es ist ein historischer Moment für Europa, es ist ein historischer Moment für Italien.»
EU-Gelder an Rechtsstaatlichkeit gekoppelt
Am Montag waren zwei der umstrittensten Einzelpunkte gelöst und damit der Weg zum Gesamtdeal freigemacht worden. Zum einen fand man nach tagelangem Streit einen Kompromiss zum Kern des Corona-Programms: Die sogenannten sparsamen Staaten akzeptierten, dass gemeinsame Schulden aufgenommen werden und das Geld als Zuschuss an EU-Staaten geht. Im Gegenzug willigten Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien ein, die Summe dieser Zuschüsse aus dem Corona-Programm von 500 Milliarden Euro auf 390 Milliarden zu verringern. Dazu kommen 360 Milliarden Euro, die als Kredit vergeben werden.
Der zweite Knackpunkt wurde dann am Montagabend geklärt: Man fand eine Formel zur Koppelung von EU-Geldern an die Rechtsstaatlichkeit, die alle 27 Staaten annahmen. Zuvor hatten sich Polen und Ungarn strikt gegen einen solchen Rechtsstaatsmechanismus gewehrt, zumal gegen beide Staaten Verfahren wegen Verletzung von EU-Grundwerten laufen. Mehrere andere EU-Staaten beharrten jedoch darauf, dass EU-Gelder gebremst werden, wenn gemeinsame Werte missachtet werden. Die Kompromissformel wurde von mehreren Staaten erarbeitet und in der Runde der 27 vom lettischen Regierungschef Krisjanis Karins vorgetragen.
Merkel reagiert ausweichend auf Frage nach Klausel
Die Interpretation der Klausel war unterschiedlich. Während EU-Vertreter sie als wirksame Koppelung bezeichneten, zitierte die polnische Nachrichtenagentur PAP polnische Regierungsquellen mit der Einschätzung, die Koppelung sei gestrichen worden. Ungarische Medien feierten die Einigung als Sieg für Ministerpräsident Viktor Orban.
Merkel hat ausweichend auf die Frage reagiert, ob künftig EU-Mittel gekürzt werden können, wenn EU-Staaten gegen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit verstossen. «Sie wissen ja, dass ein Rechtsakt beraten wird, den die Kommission vorgeschlagen hat im Rat», sagte die Bundeskanzlerin Merkel am Dienstagmorgen. «An diesem Rechtsakt muss jetzt weitergearbeitet werden.»
Eventuell werde man sich mit Fragen zum Thema auch noch einmal bei einem EU-Gipfel beschäftigen, sagte die CDU-Politikerin. Für die Verabschiedung des Rechtsaktes im Ministerrat werde eine qualifizierte Mehrheit benötigt.
EU-Sondergipfel in Brüssel verpasst Längenrekord
Nur 25 Minuten haben nach Zeitrechnung der EU gefehlt, um den Brüsseler Sondergipfel zum Haushalt für die kommenden sieben Jahre zum längsten in der Geschichte der Union zu machen. Damit bleibt der Rekord beim Gipfel von Nizza aus dem Jahre 2000 bestehen. Dieser war nach EU-Rechnung erst nach 91 Stunden und 45 Minuten zu Ende gegangen.
In Nizza hatten die Staats- und Regierungschef einen neuen EU-Vertrag ausgehandelt, der ein weiteres Zusammenwachsen Europas ermöglichte. So wurden die Weichen für die Aufnahme von den damals noch nicht zur EU gehörenden Ländern Mittel- und Osteuropas sowie von Malta und Zypern gestellt. (SDA/szm)
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