SonntagsBlick: Seit einer Woche müssen die Kinder nun zu Hause bleiben. Manche Eltern erzählen mir, dass ihre Kinder schon jetzt total überdreht sind
Margrit Stamm: Kinder sind wie Seismografen! Sie spüren oft viel schneller als die Eltern selbst, dass diese angespannt sind und sich Sorgen machen. Hinzu kommt: Genauso wie die Eltern sind auch die Kinder aus ihrem Alltag herausgerissen worden. Dass sie überdreht sind, ist völlig normal.
Wie sollen die Eltern reagieren?
Am besten Ansprüche senken und auch nicht streng mit sich selbst ins Gericht gehen. Dass einem in einer solchen Situation nicht alles gelingt und es häufiger zu Reibereien und Krach kommt, gehört dazu. Und sie sollten sich immer wieder bewusst machen, dass sie nicht die einzigen sind, die jetzt da durchmüssen. Selbst jene Eltern, die ihre Kinder auf die teuersten Privatschulen schicken, sind betroffen! Man sollte versuchen, das Beste daraus zu machen. Und gemeinsam mit den Kindern Ziele zu formulieren. Zum Beispiel, dass wenigstens bei einem Znacht alle eine gute Miene machen.
Dass Familien jetzt Zeit zum Entschleunigen haben, glauben Sie aber nicht.
Nein, das ist sozialromantisch! Homeoffice befreit die Eltern ja nicht von Konflikten und Stress bei der Arbeit. Schulschliessungen sind ein Stresstest für Familien, weil sie jetzt so nahe zusammenleben müssen. In der Moderne ist das eine gesellschaftliche Anomalie.
Worauf sollten Eltern achten, damit die Phase ohne grössere Probleme abläuft?
Sie sollten sich bewusst sein, dass sie – ob sie es wollen oder nicht – immer Modell sind für ihre Kinder. Wenn sie Ängste haben, übertragen sie diese auch auf ihre Kinder. Dann ist es wichtig, dass sie den Kindern auch weiterhin eine strukturierte Normalität im Alltag geben. Auch Rituale sind gut. Ein gemeinsames Essen und dann ein Spaziergang im Wald mit dem Vater zum Beispiel. Und was vielleicht Mut macht: Gerade jetzt könnten Kinder sich auch überfachliche Kompetenzen aneignen, die ja im Lehrplan 21 so wichtig sind. Verantwortungsbewusstsein zum Beispiel.
Wie meinen Sie das?
Vielleicht bemerken die Kinder jetzt zum Beispiel, dass die Eltern Hilfe brauchen im Haushalt. Sie können Verantwortung übernehmen und die Eltern dabei unterstützen. Und sie können lernen, was Solidarität bedeutet. Solche Kompetenzen sind sehr wichtig, damit die Kinder zu starken Personen werden und die Schule und das Leben gut überstehen.
Die Bildschirmzeit vieler Kinder wird sich in der kommenden Phase drastisch verlängern. Nicht nur wegen digitaler Hausaufgaben, sondern auch, weil Eltern ihnen häufiger erlauben werden, fernzusehen oder zu gamen, um Ruhe beim Homeoffice zu haben. Ist das ein Problem?
Bleibt es bei wenigen Wochen, finde ich das nicht problematisch. Fernsehen und Gamen kann in dieser Notsituation durchaus eingesetzt werden. Wenn die Schulschliessung länger andauern sollte, müsste man rigider sein und Alternativen bieten. Nachbarschaftliche Programme im kleinsten Kreis. Und die Kinder dürfen ruhig auch mal Langeweile haben. Das ist sowieso wichtig – es fördert die Kreativität.
Haben die Schulschliessungen Folgen für die Bildung der Kinder? Auf Twitter schreiben Sie von einem verlorenen Jahr.
Drei Wochen Schulschliessung wären kompensierbar. Sprechen wir aber von Monaten, wird es problematisch, vor allem für Kinder aus sozial schwächeren Familien. Während Eltern aus bildungsnahen Familien momentan zu Hilfslehrern werden und alles tun, damit ihre Kinder diese Zeit gut überstehen, kann der Verzicht auf Schule für Kinder aus sozial schwächeren Familien verheerend sein.
Warum?
Die Schule hat für sie auch eine wichtige soziale und fürsorgerische Funktion und gibt ihnen Halt. Zu Hause sind sie häufig auf sich alleine gestellt, weil beide Eltern in Schichten arbeiten müssen – auch weiterhin.
Die Schule fällt ja aber nicht komplett aus. Die Kinder bekommen weiterhin Aufgaben, via Lernplattformen zum Beispiel.
Ja, aber gerade Kinder aus sozial schwächeren Familien verfügen teilweise über keine digitalen Geräte oder haben keinen Zugang zu starkem WLAN. Das ist ein Problem. Und dann kommt noch hinzu, dass wahrscheinlich Unterstützungsangebote für sie wegfallen, wie etwa die Begleitung durch Heilpädagoginnen oder Hausaufgabenhilfen. Ohne Begleitung sind diese Kinder häufig überfordert und orientierungslos. Erst recht, wenn man ihnen wie jetzt Lernaufgaben gibt und auf Selbstverantwortung setzt.
Via Skype oder Telefon können die Kinder weiterhin in Kontakt mit ihren Lehrpersonen treten.
Es reicht lange nicht, wenn man einmal pro Tag mit ihnen spricht und sie fragt, ob sie die Aufgaben gelöst haben. Diese Kinder brauchen direkte Unterstützung. Erst recht jene, die momentan noch nicht mal richtig Deutsch können. Denken Sie nur an den Sommerlocheffekt!
Sommerlocheffekt?
Studien belegen, dass Kinder aus sozial schwächeren Familien Ende Schuljahr relativ weit sind in ihrer Sprachentwicklung und gute Fortschritte gemacht haben. Wenn sie dann aber fünf oder sechs Wochen lang Ferien haben, bewegen sie sich oft nur in ihrem Milieu, sprechen kein Deutsch mehr und sitzen häufig vor der Playstation. In den Sommerferien rinnt das Gelernte regelrecht zusammen, und sie müssen wieder lernen, wie man sich in der Schule benimmt.
Gehen Sie davon aus, dass sich der Graben zwischen Kindern aus bildungsnahen und -fernen Familien durch die Schulschliessungen noch vergrössern wird?
Dauern sie länger an, dann ja. Besonders, wenn die Schulen den sozialen Blick nicht berücksichtigen. Ich kann mir aber auch vorstellen, dass es Leuchtturmschulen geben wird, denen es gelingt, das mit kreativem Lernen aufzufangen.
Woran denken Sie?
Eine Möglichkeit wäre, Gymnasiasten als Mentoren einzusetzen, die die jüngeren Schüler eins zu eins beim Lernen begleiten. Wunderbar wäre auch, wenn es hier Solidarität von gut situierten Familien gäbe. Sie könnten die betroffenen Kinder zum Beispiel zum Essen und Hausaufgabenmachen einladen. Und wenn die Schulschliessung bis zum Sommer andauern sollte, müsste man sich überlegen, ob die Heilpädagoginnen und -pädagogen die Kinder vielleicht zu Hause besuchen könnten. Es ist wichtig, dass diese Kinder nicht allein gelassen werden. Man muss schauen, wie man sie stärken kann, schulisch wie auch fürsorgerisch.
Margrit Stamm (69) ist emeritierte Professorin für Pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg sowie Gründerin und Leiterin des Forschungsinstituts Swiss Education in Aarau. Schwerpunkte ihrer Forschung liegen in den Bereichen der frühkindlichen Bildung, der Chancengleichheit, der Begabungsforschung und Talententwicklung über die Lebensspanne hinweg. Zu diesen Themen hat sie diverse
Untersuchungen veröffentlicht. Stamm ist verheiratet und
Mutter zweier erwachsener Kinder.
Margrit Stamm (69) ist emeritierte Professorin für Pädagogische Psychologie und Erziehungswissenschaften an der Universität Freiburg sowie Gründerin und Leiterin des Forschungsinstituts Swiss Education in Aarau. Schwerpunkte ihrer Forschung liegen in den Bereichen der frühkindlichen Bildung, der Chancengleichheit, der Begabungsforschung und Talententwicklung über die Lebensspanne hinweg. Zu diesen Themen hat sie diverse
Untersuchungen veröffentlicht. Stamm ist verheiratet und
Mutter zweier erwachsener Kinder.