In Mels SG ist eben die Schule aus. Vier Schulkinder rennen mit auf dem Rücken festgezurrtem Schulrucksack an der Kirche vorbei. Auf einmal bleibt eines der Mädchen stehen und mustert Pater Ephrem Bucher mit schelmischem Blick durch eine zu einem Fernrohr zusammengedrehten Zeichnung. Der 73-jährige Priester lächelt zurück, wartet, bis sie weg ist, und lässt seinen Blick ins Ungewisse schweifen: «Ich verstehe nicht, wie Joël es auf Kinder wie sie abgesehen haben konnte!»
Der Luzerner wacht heute als sogenannter Guardian über die Geschicke des kleinen Kapuzinerklosters Mels. Ihm sind sieben Brüder des Ordens unterstellt, der sich auf den heiligen Franz von Assisi beruft. Von 2001 bis 2003 und von 2007 bis 2013, in seiner Zeit als oberster Schweizer Kapuziner oder «Provinzial», waren es rund 400, darunter der besonders kompromittierende Pater Joël. Der 76-jährige «Bruder» hat sich im Lauf seiner diversen Versetzungen des sexuellen Missbrauchs an Dutzenden von Kindern in den Kantonen Freiburg, Waadt, Wallis, Genf und auch in Frankreich schuldig gemacht. Das Buch von Opfer Daniel Pittet (57), zu dem Papst Franziskus das Vorwort beitrug, hat ihn am Montag ins Rampenlicht katapultiert (BLICK berichtete).
Mit Pater Joël befreundet
«Vergangen ist vergangen, daran lässt sich leider nichts ändern», eröffnet Pater Ephrem Bucher im Büro der Pfarrei Mels das Gespräch. «Ich bitte Joëls Opfer um Entschuldigung für meine Versäumnisse bei der Aufarbeitung dieser Angelegenheit. Wären wir Kapuziner anders vorgegangen, hätte sich viel Leid vermeiden lassen.» Der Ordensmann wirkt ein wenig ermattet und überraschend distanziert. Er schaut uns mit mildem Blick an, aber die Körpersprache verrät sein Unbehagen. Den Fall Joël hatte Daniel Pittet bereits 1989 Buchers Vorgänger gemeldet. Dieser versetzte den fehlbaren Priester damals einfach nach Frankreich – wo er sich dann erneut an Kindern verging.
Ephrem Bucher übernimmt 2001 sein Amt und stösst auf den Fall Joël. «Eine kalte Dusche», die für den einstigen Präsidenten der Konferenz der Vereinigungen der Orden und Säkularinstitute der Schweiz im Lauf der Jahre zur «Bürde» wird, wie er sagt. Kein Wunder: Pater Bucher kennt den Waadtländer gut. Er hat mit ihm in seiner Jugendzeit ein Jahr im Priesterseminar in Sitten VS verbracht. «Er war ein zwar wohlbeleibter, aber blitzgescheiter und literarisch begabter junger Mann mit hoher Beobachtungsgabe. Bei Spaziergängen in der Natur fielen ihm immer Details auf, die allen andern entgangen waren», erinnert sich der Mittsiebziger bewundernd. «Von seinen Neigungen ahnten wir damals nicht das Geringste.»
«Wir dachten nicht, dass es Kreise zieht»
Bucher beschränkt sich darauf, den ehemaligen Weggefährten mit den Vorwürfen zu konfrontieren. Er sucht ihn zusammen mit zwei Oberen des Ordens im Kloster Bron auf, unweit von Lyon, wo Pater Joël damals lebte. «Er stritt ab, seit seiner Versetzung nach Frankreich rückfällig geworden zu sein», erinnert sich Bucher. «Wir nahmen dies mit Vorbehalt zur Kenntnis.» Tatsächlich wurde Pater Joël 2012 in Frankreich zu zwei Jahren Gefängnis bedingt verurteilt – insbesondere, weil er seinen Neffen missbraucht hatte.
Zurück ins Jahr 2003, als Ephrem Bucher die von seinem Vorgänger eingefädelte Politik der blossen Isolation von Pater Joël weiterführt: «Klarheit herrschte nur in einem Fall, jenem von Daniel Pittet. Dieser behauptete zwar, es gebe noch viele andere, aber wir dachten nicht, die Sache ziehe solch weite Kreise.»
Mit der Folge, dass Pater Joël nur gerade von den pfarramtlichen Tätigkeiten freigestellt wird. Theoretisch hat er damit keinen Zugang zu Kindern mehr, lebt aber normal in Bron weiter, «unter enger Überwachung seiner Mitbrüder», wie Ephrem Bucher betont. Ihn streift zwar die Idee, Pater Joël in den Laienstand zurückzuversetzen und ihn also aus dem Orden auszuschliessen. Aber Bucher hält diesen Weg rasch für unvernünftig: «Das hätte verheerend sein können, man hätte ihn einfach allein von dannen ziehen lassen und ihn seinen Trieben ausgeliefert. Ausserdem war Joël psychisch kaum belastbar, und ich befürchtete, dass er sich das Leben nimmt. Zudem ging von ihm kaum mehr eine Gefahr aus, er sah immer schlechter und konnte nur noch am Stock gehen», gibt Pater Bucher zu bedenken. Der Kirchenmann begnügt sich damit, seinem ehemaligen Freund eine psychologische Beratung aufzubrummen. Diese hat er eben abgeschlossen, offenbar ohne dass dies den Kapuzinerverantwortlichen Sorgen bereiten würde.
Die Sache in der Familie regeln
Zu keinem Zeitpunkt schalten Pater Bucher oder einer der Mitbrüder die weltlichen Instanzen ein. Dafür, dass er die schmutzige Wäsche nur innerhalb der Familie gewaschen hat, würde der ehemalige Kapuzinerprovinzial heute theoretisch bis zu viereinhalb Jahre Gefängnis riskieren. Aber Pater Joëls 24 bei den französischen und freiburgischen Behörden aktenkundigen Missbrauchsfälle aus den Jahren 1958 bis 1995 liegen inzwischen zu weit zurück. «Er würde von Amtes wegen strafrechtlich wegen Vernachlässigung der Fürsorge- oder Erziehungspflicht verfolgt, ganz zu schweigen von Schadenersatzansprüchen im Rahmen eines Zivilprozesses», erläutert die Lausanner Rechtsanwältin Véronique Fontana. Sie vertritt auch eines der Opfer eines schweren Falls von sexuellen Missbräuchen, zu denen es Anfang der Nullerjahre im Internat einer internationalen Schule in den Waadtländer Alpen gekommen war.
Solche Aussichten schrecken Pater Bucher nicht, als beschlagener Doktor der Philosophie verweist er auf die Stoiker: «Ich gehe mit dieser Geschichte um wie mit einer unheilbaren Krankheit, die man akzeptieren muss, weil man gar keine andere Wahl hat!»
Der Ordensmann stellt sich vor die Kapuziner und erinnert daran, dass kürzlich eine interne Kommission zum Thema sexueller Missbrauch reaktiviert worden sei, wie man dies einst auch im Kloster Einsiedeln SZ getan habe. Pater Bucher erinnert überdies daran, dass sich der Kapuzinerorden mit der Zahlung einer Abfindungssumme von 50’000 Franken an Daniel Pittet einverstanden erklärt hat. Ausserdem unterstreicht er, die Kirche erlebe gegenwärtig «eine Umbruchphase in Sachen sexueller Missbräuche»; zu seiner Zeit «seien die Dinge nicht ganz so klar gewesen».
Weist man ihn darauf hin, dass nach dem Besuch von Daniel Pittet bei seinem ehemaligen Peiniger letzten November dessen Foto, aber auch das Bild eines anderen Bruders von der Website des Klosters verschwunden sind, zuckt er nicht mit der Wimper. Er erklärt, «andere schwere Fälle sind mir nicht bekannt». Abgesehen davon sei die Entfernung der Fotos «im Zusammenhang mit einem Transfer im Hinblick auf intensive medizinische Begleitung» erfolgt.
Schuldig aus Naivität?
Pater Bucher sass dreien der Opfer von Pater Joël gegenüber. Dass von Pädophilen Vergewaltigte ein Leben lang an Folgeschäden leiden, realisierte er erst nach diesen Begegnungen. «Ich hatte geglaubt, diese Wunden würden mit den Jahren verheilen.»
Der Kapuziner fährt uns mit seinem Opel Meriva behutsam zum Bahnhof Sargans zurück. Zum Abschied sagt er: «Ich versuche, Joël als einen Bruder zu sehen, der leidet, trotz dem Horror dieser Taten, die man als eine Einflussnahme des Teufels sehen mag.» Und dann, mit später Einsicht, fügt Ephrem Bucher an: «Man hätte der Angelegenheit ab 1990 genauer nachgehen sollen, statt ihn einfach zu versetzen, und ich hätte den Fall den Behörden melden müssen …»
Übersetzung: Jean-Paul Käser