Effektiver Altruismus
«Ich spende 60 Prozent meines Einkommens»

Jonas Müller (31) hat ein Ziel im Leben: Spenden. So viel wie möglich. Um das zu tun, arbeitet er in der Finanzindustrie.
Publiziert: 10.12.2017 um 21:02 Uhr
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Aktualisiert: 13.09.2018 um 04:10 Uhr
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Verzichten, um zu helfen: Jonas Müller greift im Supermarkt stets zu den günstigsten Produkten.
Foto: Siggi Bucher
Aline Wüst (Text) und Siggi Bucher (Fotos)

Nie würde Jonas Müller einem Bettler Geld geben. Nie auf die Idee kommen, Fairtrade-Kaffee zu kaufen, nie Geld ausgeben für ein Bier zu viel in der Bar. Jonas Müller ist nicht geizig, im Gegenteil. Aber er ist fokussiert.

Wer sein Ziel im Leben erreichen will, sagt er, muss konsequent sein. Und konsequent sein heisst für ihn, das Geld für Bettler, Fairtrade-Kaffee und Bier zu sparen, um es Menschen und Tieren zu geben, die es dringender brauchen. Deshalb ignoriert er jeden Bettler. Er weiss, dass es anderswo um Leben und Tod geht.

Jonas Müller ist nicht allein. Er gehört zu einer Bewegung, die sich «Effektiver Altruismus» nennt. Es gibt sie erst seit wenigen Jahren. Doch sie wächst. Auch in der Schweiz. Vor fünf Jahren gab es hier gerade mal eine Handvoll Menschen, die so handelten wie Müller. Heute sind es bereits 200, weltweit 3000.

Die Grundidee ist einfach: Möglichst viel verdienen, möglichst viel spenden. Viele effektive Altruisten geben mindestens zehn Prozent ihres Gehalts an Hilfsorganisationen.

«Wegschauen fiel mir schon immer schwer»

Wenn Anhänger dieser Bewegung darüber reden, was sie tun, kommen sie früher oder später auf den australischen Philosophen Peter Singer. Er ist so etwas wie die Ikone der Bewegung. Singer hat auch Müllers Leben auf den Kopf gestellt. Genauer: ein Gedankenbild des Philosophen. Müller erzählt es gern. «Stellen Sie sich vor, Sie sind auf dem Weg zum Vorstellungsgespräch, tragen neue Kleider, teure Schuhe. Sie kommen an einem Teich vorbei, in dem ein Kind ertrinkt. Würden Sie es retten und die teuren Kleider und Schuhe ruinieren? Klar würden Sie das tun!» Die nächste Frage sei, ob es irgendetwas an der Sache ändere, wenn das Kind 100 Meter weiter in Lebensgefahr sei. Oder in Afrika ... Gute Frage.

Müller wuchs in Skandinavien auf. Er hat Informatik studiert, arbeitete nach dem Studium für eine kleine Nichtregierungsorganisation (NGO). Das Leid der Welt beschäftigt ihn schon lange. «Wegschauen fiel mir schon immer schwer», sagt er.
Nach der Lektüre von Singers Buch war ihm klar: Effektiver als bei einer NGO ist die Arbeit in der Finanzindustrie – da kann man richtig viel Geld verdienen. Gedacht, getan: Müller kündigte, bewarb sich, bekam mehrere Jobangebote aus Schweden und eines aus der Schweiz. Er entschied sich für die Schweiz, weil der Lohn höher war.

Seine Familie in Schweden zu verlassen, fiel ihm zwar schwer, aber eben: Wer seine Ziele erreichen will, muss konsequent sein. Seit fünf Jahren arbeitet Müller nun als Software-Ingenieur in Zürich, entwickelte ein Programm, das Banker dabei unterstützt, für ihre Kunden Hypotheken zu berechnen.

Den Nutzen eines Jobs prüfen

Was Müller tat, tun viele effektive Altruisten. Statt Tiermedizin studieren sie Betriebs-ökonomie. Dort ist mehr Geld zu holen, das für Tiere in Not gespendet werden kann. Statt als Lehrerin arbeiten sie lieber bei einem Pharmakonzern und unterstützen Bildungsprojekte in Drittweltländern.

Als Tierarzt oder Lehrerin könnten sie zwar direkt Gutes tun, wären aber ersetzbar. Im gut bezahlten Job sind sie das nicht. Denn die Chance, dass ein anderer auf dem gleichen Posten ebenfalls zehn Prozent oder mehr seines Einkommens spenden würde, wäre klein.

Doch es wird noch radikaler: Auch wenn ein Job moralisch verwerflich ist, müsste geprüft werden, ob der Nutzen unter dem Strich nicht allenfalls grösser sei als der Schaden, heisst es auf Websites, die über die Bewegung informieren.
Effektive Altruisten stützen sich auf Zahlen. Sie vertrauen ihrem Kopf und hören nicht auf den Bauch. Sie spenden dort, wo es am dringendsten gebraucht wird. Spenden nur an Organisationen, deren Effektivität wissenschaftlich bewiesen ist. Effektive Altruisten denken in Menschenleben. 100 Franken bedeutet für sie 25 Menschen mehr, die unter einem Moskitonetz schlafen oder 227 afrikanische Kinder, die entwurmt werden können.

Geben macht glücklich

Jonas Müller mag Effektivität. Darum hebt er in seiner Freizeit Hanteln, statt zu joggen. Zusammen mit seiner Freundin Tanja Rüegg (22) lebt er in einer Dreizimmer-wohnung in Zürich-Schwamendingen. Sie teilt seinen Lebensstil. Die beiden sind sparsam, fast nur Migros-Budget-Produkte landen in ihrem Einkaufswagen. Sie besuchen in den Ferien die Eltern. Statt ins Kino zu gehen, schauen sie sich abends auf dem Sofa Comedy-Shows im Fernsehen an.

Müller sagt: «Ich bin glücklich.» Dass Geben glücklich macht, ist durch Studien belegt. Die Wissenschaft sagt auch: Sich hin und wieder etwas Kleines zu kaufen, macht zufriedener als grosse, teure Dinge. Natürlich beherzigt Müller auch dies. Kauft darum statt teure Möbel lieber eine Tasse mit einem Spruch drauf. Die mag er. Oder ein Ginger-Bier. Das geniesst er.

Ende Jahr setzt Jonas Müller sich an seinen Computer, schaut, was sich auf seinem Konto angehäuft hat und spendet es mit einigen Mausklicks an ein paar ausgewählte Hilfsorganisationen. Letztes Jahr verschenkte er so an einem Tag 60 Prozent seines Jahresgehalts. Es gebe ihm keinen besonderen Kick, sagt er.
«Es geht doch im Leben darum, die Welt ein bisschen besser zu verlassen, als man sie vorgefunden hat, oder nicht?»

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