Nach jedem Anschlag auf europäischem Territorium drängt sich die bange Frage erneut auf: Wie gefährdet ist die Schweiz? Töten Terroristen bald in Zürich, Bern oder Luzern? Für den Extremismus-Experten Lorenzo G. Vidino ist klar: «Die Schweiz ist nicht ein Hauptziel von Dschihadisten.» Viel exponierter seien Länder, die aggressiv gegen den Islamischen Staat und andere Gruppen vorgehen – die USA, Frankreich und Grossbritannien etwa.
Ein Bedrohungspotenzial bestehe dennoch: «Es ist relativ einfach, in die Schweiz zu gelangen, speziell für Leute, die einen europäischen Pass haben. Und es gibt sehr wohl potenzielle Ziele – Botschaften, religiöse Bauten oder prominente Islamkritiker wie etwa Oskar Freysinger», sagt Vidino, der früher an der ETH lehrte und heute als Programmdirektor für Extremismus an der George Washington University forscht. «Wenn du Schweizer Dschihadist bist, willst du die Schweiz angreifen und bestrafen – das Land, das du hasst.»
Freysinger reagiert auf die Analyse des Experten gelassen. Er wisse, dass er auf einer Abschussliste stehe – den Mund verbieten lassen wolle er sich nicht.
Wie viele Leute hierzulande wirklich gefährlich sind, ist auch für Experten schwierig zu beantworten. Einen Hinweis gibt das jüngste Bulletin des Nachrichtendienstes des Bundes zu Dschihad-Reisenden aus der Schweiz: Danach sind bis Oktober dieses Jahres 71 Personen in den Heiligen Krieg nach Syrien und andere Länder gezogen. «Vernünftigerweise kann man von einigen wenigen Hundert Dschihadisten in der Schweiz ausgehen», schätzt Vidino. «Dazu gibt es eine grössere Gruppe von Sympathisanten.»
In dieses Bild passt eine Zahl, die der Kommandant der Zürcher Stadtpolizei, Daniel Blumer (58), gestern im «Tages-Anzeiger» nannte: «Im Kanton Zürich haben wir mehr als ein Dutzend Personen aus islamistischen Kreisen im Fokus», sagte er. Keine erschreckend hohe Zahlen also. Die Dschihadisten-Szene sei im Vergleich zu jener in Frankreich und Deutschland überschaubar und weniger gut entwickelt, sagt Vidino.
Allerdings: Ein nationales Burkaverbot könnte das Klima verschärfen. «Das würde von radikalen Predigern und Dschihadisten sofort ausgenützt, zu behaupten, die Schweiz sei islamfeindlich.» Ein Burkabann würde ins «allgemeine grosse Narrativ» passen, die Erzählung also, dass der Westen gegen den Islam sei und diesen mit allen Mitteln zerstören wolle. Zweifellos würde ein Burkaverbot instrumentalisiert, Leute zu radikalisieren, folgert Experte Vidino.
An den Plänen der Burkagegner ändert dies nichts. Die Initiative für ein schweizweites Verbot ist zur Prüfung bei der Bundeskanzlei eingereicht. «Wir rechnen jeden Tag mit dem Ergebnis und werden im Januar mit der Unterschriftensammlung beginnen», sagt der Wortführer der Initianten, der Solothurner SVP-Nationalrat Walter Wobmann (58). Vorbild ist das Tessiner Verhüllungsverbot, das nächstes Jahr in Kraft tritt.
«Das Tessin war eine Nagelprobe für uns. Das Parlament hat die Umsetzung im Tessin für verfassungskonform erklärt», sagt Wobman. Nach den Anschlägen von Paris sei die Debatte um ein Burkaverbot «aktueller denn je». Minarette und Vollverhüllung seien typische Symbole eines radikalen Islams, «den wir in Europa nicht wollen».
Andererseits sei jede Religion, die sich an die Gesetze halte und nicht aggressiv missioniere, willkommen: «Ich stehe in Kontakt zu moderaten muslimischen Verbänden. Wir sprechen ganz normal miteinander», sagt Wobmann. Dass er auch schon bedroht wurde, nimmt er in Kauf. «Wir dürfen uns nicht einschüchtern lassen.»