Radka Denemarkova, die Begegnung mit einer jungen Chinesin veränderte Ihr Leben. Wie kam das?
Radka Denemarkova: Ich muss dazu etwas ausholen. Darf ich?
Gern.
2013 bekam ich eine offizielle Einladung zu einem Literaturfestival in Peking. Ich war zum ersten Mal in China. Und es gab Momente, in denen ich mich fragte, was in diesem Land los ist. Da ist einerseits eine funktionierende Wirtschaft, andererseits diese Brutalität. Die Brutalität interessierte mich. Doch während es in Europa reicht, eine Stufe unter die Oberfläche zu gehen, um etwas zu verstehen, gräbt man in China viele Schichten tief, bis man auf Menschen trifft, die Vertrauen haben. Doch ist dieses Vertrauen einmal da, geht es immer tiefer und tiefer. Und da wurde es für mich schwierig.
Weshalb?
Weil ich ertragen musste, was mir Menschen erzählten, die in einem totalitären System leben.
Sie wollten von dieser chinesischen Frau erzählen.
Genau, ich lernte den chinesischen Dissidenten Xu Zhiyuan kennen, und in seinem Umfeld waren auch einige Hochschulstudenten, darunter die Medizinstudentin Lin-Jiang. Ich traf sie zum ersten Mal 2016. Sie war im Alter meines Sohns. Ein sensibles, nettes, empathisches Mädchen. Ich habe sie sehr gemocht, habe auch ihre Eltern kennengelernt. Ich bin dann nach Europa zurückgekehrt, und sie hat sich nicht mehr gemeldet. Als ich wiederkam, sagten mir ihre Freunde, dass Lin-Jiang einen Fehler gemacht habe.
Welchen Fehler?
Sie hat etwas Kritisches über den chinesischen Präsidenten Xi Jinping geschrieben. Lin-Jiang wurde verhaftet, kam ins Gefängnis und wurde ermordet. Paralysiert hat mich, dass sich alle so verhalten haben, als ob das normal wäre.
Wie geht es den Eltern von Lin-Jiang?
Sie haben sich sofort scheiden lassen. Die Mutter war Managerin in Peking. Sie hat gesagt, ihre Tochter sei das Schlechteste, was es gibt. Sie sagte öffentlich, sie habe keine Tochter. Sie schwor also der Kommunistischen Partei Loyalität und konnte ihren Job behalten. Der Vater tat das nicht. Er verlor seine Stelle als Arzt im Spital, arbeitet nun in einem Dorf als Bauarbeiter und darf diesen Ort ohne Genehmigung nicht verlassen.
Was hat das mit Ihnen gemacht?
Es hat mein Herz gebrochen. Lin-Jiang war wie eine Tochter für mich. – Und die Europäer in China gingen mir auf die Nerven.
Weshalb?
Diese gierigen Wirtschaftsleute interessiert nicht, was in China los ist. Sie erledigen ihre Geschäfte und kehren nach Hause zurück, halten sich dabei stets an die eiserne Regel: Ich habe nichts gesehen und mische mich nicht in fremde Angelegenheiten ein. Nicht im Traum würden sie darauf kommen, sich selber zu ergründen. Es geht nur ums Business. Milliarden um Milliarden. Menschenrechte sind dabei egal. Ich habe mich gefragt: In welcher Welt lebe ich? Dieses Mädchen verschwindet, und niemand interessierte sich dafür.
Warum sind wir so gleichgültig?
Die Menschen möchten ein ruhiges Leben führen. Viele in Europa sagen mir: Ich interessiere mich nicht für Politik. Ich sage dann: Aber die Politik interessiert sich für uns. Immer. Bis in die intimsten Details. In China beispielsweise dafür, wie viele Kinder eine Familie haben darf. Ich glaube auch, dass viele Menschen nur ihr eigenes Leben im Wohlstand sehen, sich auf ihre Pseudoprobleme fokussieren. Sie sagen: Uns geht es auch nicht so gut, wir können uns das zweite Auto nicht leisten. Sie haben keine Ahnung, was in der Welt los ist.
Haben Sie den Roman «Stunden aus Blei» für dieses Mädchen geschrieben?
In China gibt es Abertausende Menschen – und ich spreche dabei noch nicht einmal über die Verbrechen an den Uiguren –, die «Fehler» machen, verschwinden und getötet werden. Ich wollte, dass dieses Mädchen nicht vergessen geht. Sie ist der Grund, weshalb ich dieses Buch absolut kompromisslos geschrieben haben. Aus allen Perspektiven. Das richtet sich nicht gegen die Chinesen. Ich habe dort sehr gute Menschen getroffen. Aber in China hat sich das Schlimmste vom Kapitalismus mit dem Schlimmsten vom Kommunismus verbunden. Da ist eine ganz neue Art von totalitärem System entstanden. Eines, das keine Waffen braucht. So was gab es noch nie. Jeder kann in China reich werden. Doch zu welchem Preis? Es gibt weder Menschenrechte noch Freiheit. Es ist ein Leben in ständiger Angst, Fehler zu machen, denn durch die Technologie werden alle ständig überwacht. Wer Fehler macht, verliert Punkte. Man bekommt dann keine Hypothek mehr, darf nicht mehr reisen und so weiter. Das führt zu Selbstzensur. Weil du in einem solchen System niemandem mehr vertrauen kannst. Das macht die Menschen hart.
Ein hoch technisiertes System überwacht und bewertet das Verhalten der chinesischen Bevölkerung. Es läuft über Smartphones. Zu Beginn bekommt jeder Bürger 1000 Punkte. Punkte gewinnen kann, wer beispielsweise Blut spendet oder keine Schulden hat. Punkte verliert, wer bei Rot über die Ampel fährt, seine Eltern nicht regelmässig besucht oder sich regierungskritisch in sozialen Medien äussert. Wer zu viele Minuspunkte gesammelt hat, wird bestraft – keine Kredite, keine Zugtickets, keine öffentlichen Jobs. Das offizielle Ziel: «den Ehrlichen Vorteile zu geben und die Unehrlichen zu disziplinieren».
Ein hoch technisiertes System überwacht und bewertet das Verhalten der chinesischen Bevölkerung. Es läuft über Smartphones. Zu Beginn bekommt jeder Bürger 1000 Punkte. Punkte gewinnen kann, wer beispielsweise Blut spendet oder keine Schulden hat. Punkte verliert, wer bei Rot über die Ampel fährt, seine Eltern nicht regelmässig besucht oder sich regierungskritisch in sozialen Medien äussert. Wer zu viele Minuspunkte gesammelt hat, wird bestraft – keine Kredite, keine Zugtickets, keine öffentlichen Jobs. Das offizielle Ziel: «den Ehrlichen Vorteile zu geben und die Unehrlichen zu disziplinieren».
Wollen Sie damit sagen, dass die Menschlichkeit verloren geht?
In einem solchen System musst du die Menschlichkeit wegschmeissen, damit du überlebst.
Sie sind ein furchtloser Mensch.
Das bin ich nicht. Ich hatte oft Angst. Auch in China. Und ich habe oft geweint. Ich habe es mir nicht selbst ausgesucht, mutig oder rebellisch zu sein. Aber ich kann Menschen verstehen, die keine Chance auf Gerechtigkeit haben. Ich kenne diese Wut über Ungerechtigkeit, habe das in meinem Leben selbst erlebt. Auch als alleinerziehende Mutter. Darum habe ich mich in solchen Momenten ausgeweint und mir dann gesagt: Fertig!
Fertig?
Ja, andere Menschen haben es viel schwerer – in China, in Russland, in Belarus oder die Frauen in Afghanistan. Oh mein Gott, ich möchte heute nach Afghanistan fliegen und alle Frauen rausholen. Das kann ich nicht. Aber ich kann auch nicht schweigen zu alledem, was geschieht. Ich habe das Talent zu schreiben, ich bin kompromisslos und nicht korrumpierbar. Ich kann diesen Menschen eine Stimme geben.
Ändert das etwas?
Die Gesellschaft will, dass wir in unsere Pseudoprobleme reingehen und dann dort verharren. Aber ich gebe die leise Hoffnung nicht auf, dass der Teufelskreis aus Gleichgültigkeit und Gehirnwäsche durchbrochen werden kann. Wir müssen schreiben und reden, auch wenn es schwierig ist. Dabei auf dumme Reaktionen stets gefasst sein, bei China sowieso – ich habe dort ein lebenslanges Einreiseverbot. Aber die Ablehnung, die ich für meine Arbeit bekomme, und all die Politiker, die mich hassen, das ist egal. Weil es schlimmere Schicksale gibt. Solange ich sprechen kann, nutze ich meine Stimme.
Hat sich Ihr Umfeld gewundert, dass Sie Ihre Stimme für China nutzen?
Ich habe dieses Thema nicht gewählt, das Leben brachte es zu mir. Aber ja, viele fragten mich: Weshalb China? Ich musste immer erklären, dass es um Menschen geht, dass in dieser globalisierten Welt alles zusammenhängt. Dafür sagen mir viele Europäer: Wir waren in China, und es ist wunderschön da.
Was entgegnen Sie?
Klar, wenn ich dort als Touristin hingehe, ist das wunderschön. Das ist immer so. Das ist in jedem totalitären oder autoritären System so. Man sieht es nicht auf den ersten Blick.
Sie reden aus Erfahrung.
Ich bin in Tschechien vor der Wende 1989 aufgewachsen. Und ich bin glücklich darüber, weil ich erlebt habe, was Totalitarismus bedeutet.
Ein Beispiel?
Mein Vater war ein ruhiger Mensch. Einmal, es muss um 1986 gewesen sein, haben uns Bekannte aus Westdeutschland besucht. Sie waren begeistert. Sie fanden, das ist alles kein Problem – das Bier ist billig, die Landschaft schön und dieses und jenes. Mein ruhiger Vater wurde wütend und wollte sie nie mehr sehen.
Was hat Sie dieser Besuch gelehrt?
Dass nicht jeder fähig ist, im Kontext zu denken, kritisch und empathisch zu sein, um verstehen zu können, was Totalitarismus bedeutet.
Der Mensch lässt sich blenden?
Das geschah auch mehrmals in der Geschichte der Intellektuellen. Jean-Paul Sartre war in der Sowjetunion. Er wurde nett empfangen und hat dann geschrieben, wie schön es da ist und dass die sowjetischen Kühe mehr Milch geben als die französischen und solche Dummheiten.
Was werden die Sportler und Besucher bei den Olympischen Spielen in Peking sehen?
Das wird perfekt organisiert sein, mit den tollsten Hotels und Limousinen und so weiter. Die Realität werden sie nicht sehen.
Ärgern Sie sich über die Athleten, die nach Peking reisen?
Keineswegs. Das sind Sportlerinnen und Sportler, die lange trainiert haben. Handeln müssten die Regierungen. Sie müssten sagen: Olympische Spiele in China akzeptieren wir nicht. Es ist wie 1936, als alle zu den Olympischen Spielen nach Deutschland unter Hitler fuhren. Für mich ist es das Gleiche.
In der Schweiz fanden nicht wenige Chinas Reaktion auf Corona vorbildlich. Mit Lockdowns und alledem.
Aber normal wäre doch in einer solchen Situation, dass man ruhig und sachlich bleibt. Man könnte sagen: Wir tragen einen Mundschutz, und wer impfen möchte, kann sich impfen lassen. So habe ich das auf Taiwan erlebt, Anfang 2020. Taiwan ist auf Druck von China nicht Teil der WHO, also haben sie auch keine Informationen zu Covid bekommen. Die Diskussion in Taiwan war sachlich. Niemand verhängte einen Lockdown, es gab weder Hysterie noch Panik. In China hingegen gab es Lockdowns, ohne dass die Bevölkerung gefragt wurde. Es gab nur: Angst, Angst, Angst. Und Regierungen überall auf der Welt kopierten das Vorgehen Chinas. Das überraschte mich.
Ihr Roman ist eine Warnung.
Ich wollte zeigen, was dieses neuartige totalitäre System für den einzelnen Menschen, die Familie bedeutet. Aber auch beschreiben, dass wir Europäer unsere Demokratien auf Business reduziert haben. Das ist gefährlich. Denn China wird nun zunehmend die Bedingungen diktieren. Schon 2016 waren in Prag Tibet-Fahnen verboten, als Xi Jinping auf Staatsbesuch war.
Das war im Jahr darauf in der Schweiz auch so.
Ich habe bei dieser Kleinigkeit begriffen: Wenn wir als souveräne Staaten die Bedingungen Chinas erfüllen, sind wir verloren. Bei Typen wie Xi Jinping, aber auch Putin geht es nur um Stärke. Schwäche verstehen sie nicht. Man muss sagen: Stopp!
Das allerdings verdirbt die Geschäfte.
Aber es geht doch darum, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. In einer, in der die Läden voll sind und es keine Freiheit gibt wie in China? Im Kern ist es doch überall auf der Welt das Gleiche: Menschen wollen in Freiheit leben.
Die Tschechin Radka Denemarkova (53) studierte Germanistik und Bohemistik an der Karls-Universität in Prag, wo sie 1997 promovierte. Sie ist Autorin, Dramatikerin, Drehbuchautorin, Essayistin und Übersetzerin deutscher Literatur. Ihre Bücher wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Der Roman «Ein Beitrag zur Geschichte der Freude» erzählt von der weltweiten Gewalt an Frauen. Als einzige Preisträgerin erhielt Denemarkova den prestigeträchtigen tschechischen Preis Magnesia Litera viermal: für den besten Roman des Jahres (2005), das beste Sachbuch des Jahres (2008), die beste Übersetzung des Jahres (2011) und 2019 für das Buch des Jahres. Letzteres ist soeben auf Deutsch erschienen unter dem Titel «Stunden aus Blei». Sie hat dafür zwischen 2014 und 2017 längere Zeit in China verbracht. «Echte Literatur», sagt die Autorin, «bestehe darin, Wahrheit zu vermitteln und zu benennen, was unter der Oberfläche existiert.» Denemarkova lebt mit ihrer Tochter und ihrem Sohn in Prag.
Die Tschechin Radka Denemarkova (53) studierte Germanistik und Bohemistik an der Karls-Universität in Prag, wo sie 1997 promovierte. Sie ist Autorin, Dramatikerin, Drehbuchautorin, Essayistin und Übersetzerin deutscher Literatur. Ihre Bücher wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Der Roman «Ein Beitrag zur Geschichte der Freude» erzählt von der weltweiten Gewalt an Frauen. Als einzige Preisträgerin erhielt Denemarkova den prestigeträchtigen tschechischen Preis Magnesia Litera viermal: für den besten Roman des Jahres (2005), das beste Sachbuch des Jahres (2008), die beste Übersetzung des Jahres (2011) und 2019 für das Buch des Jahres. Letzteres ist soeben auf Deutsch erschienen unter dem Titel «Stunden aus Blei». Sie hat dafür zwischen 2014 und 2017 längere Zeit in China verbracht. «Echte Literatur», sagt die Autorin, «bestehe darin, Wahrheit zu vermitteln und zu benennen, was unter der Oberfläche existiert.» Denemarkova lebt mit ihrer Tochter und ihrem Sohn in Prag.