Die Rekurs-Lust der Schweizer lässt nicht nach
Volkssport Einsprachen

Volksentscheide werden immer wieder durch Einsprachen umgeworfen. Damit werden Projekte jahrelang verzögert oder stillgelegt – und meistens sind es nicht Verbände, sondern Private, die Bauprojekte verhindern wollen.
Publiziert: 03.05.2017 um 19:15 Uhr
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Aktualisiert: 28.09.2018 um 23:25 Uhr
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Der Neubau des Hotels Dolder Waldhaus in Zürich wird durch einen Rekurs gebremst. Das Hochhaus sollte abgerissen und durch Neubauten für knapp 100 Millionen Franken ersetzt werden. Mit drei Rekurrenten konnte sich die Hoteldirektion bereits aussergerichtlich einigen. Ein Nachbar allerdings wehrt sich weiterhin gegen das Projekt. Der Betonklotz aus dem Jahr 1975 bleibt nun mindestens ein Jahr länger stehen. Das Vier-Sterne-Hotel steht seit Ende September leer.
Foto: STEFFEN SCHMIDT
Marlene Kovacs

Der Berner Stadtrat Luzius Theiler (76) ist ein Ur-Grüner. Einer, der in den 1970er-Jahren die ökologische Bewegung auf die Beine brachte. Der sich stets als Oppositionspolitiker bezeichnete. So einer gibt viel auf das Recht der Einsprache, der Beschwerde. Etwa drei Mal im Jahr macht er im Namen der Grün-Alternativen oder im eigenen Namen bei Baugesuchen oder Planungsvorhaben Einsprachen. Rund zehn Fälle zog er bereits bis vors Bundesgericht.

Etwa die geplante Überbauung des heute noch landwirtschaftlich genutzten Viererfeldes an der dichtbesiedelten Berner Länggasse oder Luxuswohnungen am Centralweg im alten Arbeiter- und Gewerbequartier Lorraine oder den Seilpark im Dählihölzliwald oder die in seinen Augen hässliche Neugestaltung der Umgebung des Bundeshauses oder die Plastik-Rasen und Betonflächen auf der Allmend.

Jahrelange Verzögerung

Luzius Theiler ist die personifizierte Schweizer Lust an der Einsprache. Ein Haus zu hoch, eine Eisbahn zu laut, eine Beleuchtung zu hell – wenn der Schweizer loslegt, zieht er so was weiter bis vor Bundesgericht, verzögert Bauvorhaben um Jahre.

Wie oft so etwas vorkommt, ist statistisch schlecht erfasst. Meist sind die Einsprachen Sache der Gemeinden. In Aarau wurden im letzten Jahr 210 Baugesuche behandelt: Bei 23 Baugesuchen gab es mindestens eine Einsprache. Insgesamt wurden 41 Einsprachen behandelt. In der Stadt Bern wurden nach Angaben des Bauinspektorats 2016 insgesamt 980 Baugesuche behandelt: Bei 67 Baugesuchen wurden insgesamt 143 Einsprachen gemacht.

Das sei nötig, sagt Luzius Theiler: «Die zuständigen Behörden sind meist auch Interessensvertreter. So ist es wichtig, als unabhängie Instanz ein Bauvorhaben zu überprüfen. Natürlich muss man da einen langen Atem haben. Und zuerst überlegen, wie die Chancen für einen Erfolg stehen.» Auch Theiler kennt Niederlagen. «Damit muss man leben. Aber zumindest hat man es versucht. Nur so haben wir die Chance, die Zerstörung von Grünflächen, Bäumen und geschützter Bauten oder ganzer Quartiere in Städten zugunsten von mehr Profit zu verhindern.»

Beschwerdeführer oftmals im Recht

Das Bundesamt für Umwelt weiss, wie oft Verbände, meist Umweltorganisationen, Beschwerde einlegen. Im Jahr 2015 wurden 62 Beschwerdefälle abgeschlossen. In über 60 Prozent der Fälle bekamen die Beschwerdeführer recht. In etwas mehr als elf Prozent erwiesen sich die Beschwerden als gegenstandslos. Pro Natura schloss 2016 13 Beschwerden bei Planung und Bauvorhaben rechtskräftig ab. Elf davon mit Erfolg. Der Landschaftsschutz Schweiz schloss 2015 zehn Beschwerdefälle ab.

Doch nur wenige Prozent der Einsprachen kommen von Verbänden – der grosse Rest dagegen von Privaten. «Der Schweizer ist oft kleinlich, pocht stark auf sein Recht», erklärt Rainer J. Schweizer, Professor für öffentliches Recht an der Universität St. Gallen, das Phänomen. In der Schweiz hätten bis vor zwei Generationen breite Bevölkerungskreise sehr bescheiden gelebt. «Man möchte das Errungene an Wohlstand nicht verlieren», sagt Schweizer. «Aber die Menschen hier sind auch gewissenhaft, sorgfältig und pflichtbewusst – und fordern das von der Gegenseite.» Peter Hänni, Professor für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Freiburg, sagt: «Den Schweizern ist es wichtig, dieses Recht zu haben. Die Möglichkeit mitzusprechen: Auf dieses Recht ist der Schweizer Bürger stolz.»

Kein Wunder, ging die Volksinitiative der FDP, die das Verbandsbeschwerderecht einschränken wollte, 2008 mit 66 Prozent bachab. Federführend bei der Initiative war die Zürcher FDP-Nationalrätin Doris Fiala (60): «Volksentscheide werden immer wieder durch Einsprachen umgeworfen. Hoch bedenklich, dass wichtige Projekte jahrelang verzögert oder gar verhindert werden. Wird etwa die Energiestrategie 2050 im Mai vom Volk angenommen, dürfen die Verbände trotzdem gegen dafür nötige Windpärke Beschwerde einlegen.»

Das Einspracherecht sei ein wichtiges demokratisches Recht, betont sie. «Aber wenn es nicht gelingt, die Bevölkerung von Anfang an ins Boot zu holen, sind auch künftig viele Projekte zum Scheitern verurteilt. In anderen Ländern ist die Weiterentwicklung von Städten oft weniger problematisch.»

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