Mehr als 200 Feuerwehrleute und 40 Löschfahrzeuge konnten es nicht verhindern. Wie ein gigantisches Zündholz ist der Grenfell Tower im Westen Londons abgebrannt. Noch immer steht die Zahl der Opfer nicht fest. Weil noch nicht alle 120 Wohnungen erreicht wurden, halten die Behörden die geborgenen 17 Toten für nur eine tragische Zwischenbilanz. In den Spitälern kämpfen Dutzende Schwerverletzter um ihr Leben.
Die quälende Ungewissheit der Angehörigen wird sich verlängern. Der Rettungseinsatz und die Ermittlungen zur Brandursache wurden unterbrochen: Die Statiker befürchten den Einsturz der 24-stöckigen Ruine.
Immer neue Vorwürfe werden laut. Die Fassade des Turms brannte wie Zunder: Angeblich wurde bei der erst 2016 abgeschlossenen Totalsanierung Dämmmaterial mit leicht brennbarem Plastikkern verwendet. Nach Angaben geretteter Bewohner waren in dem Hochhaus weder ein zentraler Feuermelder noch Sprinkleranlagen installiert. Als die Rauchmelder in den Wohnungen endlich anschlugen, stand das einzige Treppenhaus längst in Flammen.
Das Sanierungsunternehmen Rydon will «alle Gesetze» eingehalten haben. Jon Hall hält das für eine Schutzbehauptung. «Alle Bestandteile der Feuersicherheit und des Gebäudemanagements müssen versagt haben», sagt der britische Brandschutzexperte: «So etwas kenne ich sonst nur aus der Dritten Welt.»
Lange schon weisen die Bewohner dieses und anderer Hochhäuser auf solche Missstände hin. Vergeblich. Die auch für den Grenfell Tower zuständigen Stadtteil-Behörden des traditionell konservativen Chelsea und Kensington vertrösteten seit Jahren, man «arbeite» an Brandschutzverordnungen. Londons neuer Oberbürgermeister Sadiq Khan versprach jetzt, nicht nur die Unfallursache, sondern auch mögliche Behörden-Schlampereien untersuchen zu lassen.
Auch Premierministerin Theresa May verspricht das, aber sie und ihre konservativen Tories trifft die Katastrophe ins politische Mark.
Seit den radikal-liberalen Wirtschaftsreformen von Margaret Thatcher in den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts hat Grossbritannien zwar den Weg aus der ökonomischen Depression geschafft. Doch der Preis für diesen Aufschwung war hoch. In wenigen Jahren, schrieb die Journalistin Anne Perkins im «Guardian», sei die britische Solidargemeinschaft von der neuen «Politik des ‹Ich› und des ‹Mein›» hinweggefegt worden.
Die «Eiserne Lady» und ihre Nachfolger erzwangen drastische Kürzungen im staatlichen Gesundheitswesen, bei Eisenbahnen, im Bildungssektor. Die Kommunen mussten mit immer weniger Geld auskommen. Wasserwerke, Energieunternehmen, Krankenhäuser – weite Teile der öffentlichen Versorgungseinrichtungen wurden privatisiert. Die Labour-Regierung von Tony Blair kehrte den Trend nicht um, sie gab höchstens etwas mehr Geld für die noch vorhandenen Dienste aus.
Die Verbraucherpreise stiegen – durchschnittlich fünf Prozent ihres Einkommens geben die Briten inzwischen für die Trinkwasserversorgung aus. Gleichzeitig sank die Qualität der Dienstleistungen. 60 Prozent der Briten verlangen deshalb die Wiederverstaatlichung der Eisenbahn.
Es könnte noch schlimmer kommen: Schon bisher gab es im britischen Haushalt kaum Mittel für Investitionen in die marode Infrastruktur. Der Brexit wird weitere Einschnitte erforderlich machen. Die Tories setzen auf kapitalkräftige Investoren aus China. Umgerechnet mehr als 16 Milliarden «kommunistische» Franken stecken bereits in der Abwasserentsorgung der Grafschaft Kent, im Schienennetz, in der Stromversorgung und im Ausbau des Flughafens Heathrow.
Eine kurzfristige Entlastung – vielleicht. Erkauft mit neuer internationaler Abhängigkeit in der Zeit nach dem EU-Austritt.