In der Sitzung wurde allerdings heftig gestritten, es ging in die Verlängerung. Entsprechend mitgenommen und erschöpft wirkte die Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles - die auch SPD-Parteichefin ist - danach. Eine für den Nachmittag angekündigte Erklärung liess sie absagen.
Nahles hatte ihre Kritiker zur Klärung der Machtfrage aufgefordert, gegen sie anzutreten. Zuvor war sie in der Partei immer mehr unter Druck geraten. Sie wolle den Stier bei den Hörnern packen, sagte sie daher.
Zunächst jedoch gab es Absagen: Mehrere als mögliche Gegenkandidaten gehandelte Sozialdemokraten - etwa Ex-Parteichef Martin Schulz und der Parteilinke Matthias Miersch - machten klar, sie stünden nicht zur Verfügung. Schulz sagte via E-Mail an die SPD-Abgeordneten ab: «Ich werde nicht für den Fraktionsvorsitz kandidieren.»
Er verwies auf ein vertrauliches Gespräch, in dem er Nahles dies bereits vor zwei Wochen mitgeteilt habe. An seiner Entscheidung habe sich auch nach dem Europawahl-Debakel nichts geändert. Die Haltung des Parteivorstands, nun keine Personaldebatten zu führen, halte er für richtig.
In der Fraktion wurde aber dennoch erwartet, dass Nahles Konkurrenz bekommt. Zugleich wurden einem möglichen gemeinsamen Gegenkandidaten gute Chancen eingeräumt, bei der Abstimmung auch gegen Nahles zu gewinnen.
Verlöre Nahles den Fraktionsvorsitz, wäre sie möglicherweise auch als Parteichefin geschwächt. Im Dezember steht nach bisherigem Plan auch für diesen Posten eine Neuwahl an - auf dem gleichen Parteitag will die SPD voraussichtlich die mit Spannung erwartete Halbzeitbilanz der grossen Koalition ziehen.
Die SPD-Fraktion diskutierte am Nachmittag stundenlang über Konsequenzen aus den Niederlagen bei der Europa- und Bremen-Wahl. Das Debakel hatte die Diskussion über die politische Zukunft von Nahles befeuert.
Teilnehmer der Sondersitzung berichteten von angespannter Stimmung und einer scharfen Auseinandersetzung um die vorgezogene Neuwahl. Viele fühlten sich in der Kommunikation übergangen: Sie hatten aus dem Fernsehen von Nahles' Vorschlag erfahren.
Die Sozialdemokraten hatten bei der Europawahl mit einem Ergebnis von 15,8 Prozent historisch schlecht abgeschnitten und waren nur auf Platz drei hinter den Grünen gelandet. Zugleich büssten sie Bremen nach 73 Jahren erstmals ihren Spitzenplatz ein. Einer Yougov-Umfrage zufolge sind 59 Prozent der Deutschen der Ansicht, dass die Grünen in den nächsten Jahren regelmässig vor der SPD landen werden.
(SDA)