Der Schweizer Mediator Julian Hottinger (61) vermittelt in Kriegen
«Ich bin dafür geschult, mit dem Teufel zu sprechen»

Somalia, Sudan, Kolumbien: Julian Hottinger (61) ist als Mediator rund um die Welt im Einsatz. Im Aussenministerium ist er eine lebende Legende. Ein Gespräch über Kriegsverbrecher, Angst und die Frage, wieso Schweizer gut darin sind, Konflikte zu entschärfen.
Publiziert: 31.08.2019 um 15:00 Uhr
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Aktualisiert: 31.08.2019 um 20:16 Uhr
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Der ugandische Rebellenführer Joseph Kony ist angeklagt wegen Kriegsverbrechen. Julian Hottinger sass mit ihm am Verhandlungstisch.
Foto: Getty Images
Benno Tuchschmid

Seit über 16 Jahren vermitteln Sie in den schrecklichsten ­Konflikten dieser Welt. Sind Sie pessimistisch oder optimistisch, was unsere Zukunft betrifft?
Julian Hottinger: Ganz klar optimistisch. Wir haben viele Probleme, keine Frage. Aber wir besitzen die Fähigkeit, selbst die komplexesten zu ­lösen, auch wenn es manchmal mehr Zeit braucht, als wir uns wünschen.

Wie kann man an die Menschheit glauben, wenn man mit ­Kriegsverbrechern an einem Tisch sitzen muss?
Wissen Sie, ich habe noch nie einen komplett bösen Menschen kennengelernt. Selbst jene, die für durchwegs schlecht gehalten werden, haben oft noch andere Eigenschaften. Man muss sie bloss erkennen.

Sie vermittelten unter anderem im Sudan, wo auch Joseph Kony, der Kommandant der ugandischen Lord’s Resistance Army (LRA), Teil der Verhandlungen war. Er ist wegen Kriegsverbrechen angeklagt, ist verantwortlich für ­Vergewaltigungen, Entführung von ­Kindern, 100 000 Tote.
Um eines klarzustellen: Bei den Verhandlungen, die von 2006 bis 2008 dauerten, ging es darum, LRA-Kämpfer in die Gesellschaft zu reintegrieren. Es gab dabei immer eine rote Linie: keine Straffreiheit für die fünf am internationalen Strafgerichtshof in Den Haag angeklagten Kommandanten, zu denen auch Joseph Kony zählte.

Können Sie die Taten eines Kriegsverbrechers ausblenden, wenn Sie ihm vis-à-vis sitzen?
Es gibt eine eiserne Regel bei Vermittlungen: nicht urteilen. Wenn ich damit beginnen würde, könnte ich meinen Job nicht machen.

Gibt es jemanden, mit dem Sie sich weigern würden zu reden?

Der Vermittler

Julian Hottinger vermittelt seit 2003 im Auftrag des Schweizer Aussendepartements (EDA) als Mediator in Konflikten rund um die Welt. Im ­Einsatz war er unter anderem in Burundi, Somalia, im Sudan, in Indonesien, Kolumbien, in der Ukraine, in Uganda und Mosambik. Hot­tinger spricht Englisch, Französisch, Spanisch und Arabisch. In der Schweiz studierte er Politikwissenschaften, ­danach spezialisierte er sich am Kanadischen Internatio­nalen Institut für ­angewandte Verhandlungen (CIIAN) auf ­internationale Konfliktmediation. ­Julian Hottinger ist der Sohn von ­Arnold Hottinger, Nahost-Experte und langjähriger NZZ-Korrespondent. Er lebt mit seiner Frau bei Lausanne.

Julian Hottinger vermittelt seit 2003 im Auftrag des Schweizer Aussendepartements (EDA) als Mediator in Konflikten rund um die Welt. Im ­Einsatz war er unter anderem in Burundi, Somalia, im Sudan, in Indonesien, Kolumbien, in der Ukraine, in Uganda und Mosambik. Hot­tinger spricht Englisch, Französisch, Spanisch und Arabisch. In der Schweiz studierte er Politikwissenschaften, ­danach spezialisierte er sich am Kanadischen Internatio­nalen Institut für ­angewandte Verhandlungen (CIIAN) auf ­internationale Konfliktmediation. ­Julian Hottinger ist der Sohn von ­Arnold Hottinger, Nahost-Experte und langjähriger NZZ-Korrespondent. Er lebt mit seiner Frau bei Lausanne.

Es ist nicht meine Entscheidung, an welchen Vermittlungen wir uns beteiligen. Das entscheidet das Departement. Aber wenn Sie mich persönlich fragen: Ich bin dafür ­geschult, sogar mit dem Teufel zu sprechen – wenn er denn dazu ­bereit ist.

Wie würden Sie einem Laien ­Ihren Job erklären?
Wir sind die dritte Partei, die einen Konflikt betritt, wenn zwei Par­teien nicht weiterkommen und bereit sind, sich helfen zu lassen. Ich ­bringe Vorschläge und neue Ideen, um einen anderen Weg als den der Gewalt zu beschreiten.

Wie haben sich Konflikte in den letzten 30 Jahren verändert?
Die Komplexität hat enorm zugenommen – und gleichzeitig auch das Misstrauen. In den 80er-Jahren galt die Regel: Wenn Konfliktparteien nicht bereit sind, die Kämpfe zu unterbrechen, dann lohnt sich eine Mediation nicht. Heute müssen wir unsere Arbeit oft beginnen, während noch geschossen wird, weil die Gruppierungen ihre ­Waffen nur ­gegen Garantien niederlegen. Dies war der Fall beim Friedensabkommen im Sudan, wo wir die Ver­handlungen 2002 begannen, als im Süden noch gekämpft wurde.

Wie gewinnen Sie das ­Vertrauen von Menschen, die niemandem trauen?
Das geht nicht in 15 Minuten. Erstens muss man mit allen gleich umgehen. Die zweite Voraussetzung ist Respekt. Die dritte lautet: nie ­lügen, nie etwas versprechen, was man nicht halten kann.

Wünschen Sie sich nicht manchmal, dass Sie die Parteien zu ­Zugeständnissen drängen könnten, wie das ein amerikanischer Verhandler tun kann, der das ­Militär einer Weltmacht im Rücken hat?
Nein. Das passt weder zu mir noch zur Art und Weise, wie die Schweiz Vermittlungen macht. Freiwilligkeit ist zentral. Dazu kommt, dass Zwang – auch wenn er manchmal nötig ist – oft wie ein Pflaster funktioniert. Man stoppt die Blutung, aber die Wunde heilt nicht, wenn man sie nicht behandelt.

Wie in Bosnien, wo auch 25 Jahre nach dem Konflikt noch Hass herrscht.
Das haben jetzt Sie gesagt.

Wissen Sie schon, wo Sie Ihre nächste Mission hinführt?
Ja, ich reise in ein paar Tagen ab.

Wohin?
Das darf ich Ihnen leider nicht sagen.

Was werden Sie im Gepäck haben?
Mehr Kleider als nötig, denn man weiss nie, wie lange eine Verhandlung dauert. Natürlich Dokumente, die für die Mediation nötig sind. Und Bücher.

Was für Bücher?
Einerseits Bücher, die etwas mit dem Konflikt zu tun haben. Dann aber auch solche, die einfach und unterhaltsam zu lesen sind. Ich lese immer etwa drei gleichzeitig. So bringe ich das Hirn dazu, sich mit anderem zu beschäftigen als mit der Vermittlung.

Wieso ist das wichtig?
Es gibt ein recht bekanntes Phänomen, unter dem viele Mediatoren leiden: «crowded solitude», auf Deutsch: belebte Einsamkeit.

Das bedeutet?
Ich bin zwar immer unter Menschen, muss aber dauernd aufpassen, was und wie ich etwas sage. ­Alles kann neue Probleme kreieren oder einer Partei den Eindruck ­geben, dass man die andere bevorzugt. Manche Leute sagen deshalb, dass es hart ist, Mediatoren wirklich nahe zu kommen. Weil sie an alles mit einer gewissen Distanz ­herantreten.

Sie haben auf der ganzen Welt vermittelt. Gibt es einen Konflikt, der Sie noch immer verfolgt?
Es gibt viele, die mich verfolgen. Ich habe Fehler gemacht, mit denen ich leben muss.

Können Sie konkreter werden?
Ich sage nur so viel: Man muss bei Vermittlungen immer sehr vorsichtig sein, was man tut und wie man etwas tut. Und auch welcher ­Gefahr man andere damit aussetzt. Sie ­sitzen manchmal Menschen gegenüber, die ihr Leben riskieren.

Sie haben mal gesagt, Sie seien zu Beginn Ihrer Karriere ein schlechter Mediator gewesen. Wieso?
Was ich sagen wollte: Man kann Mediatoren perfekt ausbilden. Und trotzdem können sie am Anfang ihrer Karriere alle möglichen Fehler machen.

Was ist ein typischer Fehler?
Nicht gut genug zuhören. Die Geduld verlieren. Interpretieren statt analysieren. Etwas vom Wichtigsten in einer Mediation ist aber auch die Chemie, und die können sie nur bedingt beeinflussen.

Die Chemie?
Es kann sein, dass man schlicht die falsche Person zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort ist. Dann muss man gehen. Das passierte mir einmal. Ich bat den Verhandlungsleiter, mich abzuziehen.

Können Sie sagen, wann und wo das war?
Das liegt ein paar Jahre zurück, so um 2000. Aber, nein, Genaueres kann ich nicht sagen, das wäre gegenüber den anderen Konfliktparteien unfair. Es war sowohl ihr wie auch mein Fehler. Der Kollege, der mich ersetzte, machte dann ­einen exzellenten Job, einen bes­seren, als ich je hätte machen ­können.

Haben Sie noch Kontakt mit ­Personen von Konfliktparteien?
Nein, wenn die Verhandlungen ­abgeschlossen sind, schliesst man die Türe hinter sich und geht.

Haben Sie manchmal Angst?
Ja.

Wann?
Die Verhandlungen sind sicher. Gefährlich wird es, wenn Sie sich im Feld bewegen. Wenn Sie zum Beispiel eine Route festgelegt haben, um eine Konfliktpartei zu besuchen, und diese Route plötzlich aus irgendwelchen Gründen nicht befahrbar ist. Auch Strassensperren können sehr gefährlich sein. Aber solche Situationen sind nicht alltäglich. Es gibt vielleicht fünf Situa­tionen, an die ich mich in meiner Karriere erinnern kann, in denen ich wirklich richtig Angst hatte.

Vermittler umweht etwas Sagenhaftes ...
Ach wissen Sie, was wir tun, hat nichts mit der Arbeit eines Verhandlungsführers in einem Film zu tun.

Weniger glamourös?
Viel weniger. Es fordert einen hohen Tribut im Familienleben. Man ist viel weg und lebt in Hotels – und zwar oft in nicht sehr bequemen. Das ermüdet.

Wie oft sind Sie weg?
Etwa 300 Tage pro Jahr.

Kann man so überhaupt Teil ­einer Familie sein?
Das kommt darauf an, wen sie fragen. Manche Kollegen sagen: Nein, ich habe zwei Scheidungen hinter mir. Andere würden sagen: Ja, es ist machbar. Ich zähle mich zu den Glücklichen.

Warum ist das, was Sie machen, wichtig für die Schweiz?
Weil es in der Verfassung steht. ­Artikel 2, Absatz 4, der Bundesverfassung: Die Schweiz setzt sich «für eine friedliche und gerechte internationale Ordnung» ein. Gleichzeitig zeigt meine Arbeit, dass die Schweiz sich nicht nur um die Vorteile der Globalisierung, sondern auch um ihre Probleme kümmert.

Wieso kommen so viele gute ­Mediatoren aus der Schweiz?
Manche würden wohl sagen, weil wir den Kompromiss mit der Babymilch aufsaugen.

Wie meinen Sie das?
Wir tun die ganze Zeit nichts an­deres als vermitteln. Nehmen Sie den Finanzausgleich zwischen den Kantonen. Das ist nichts anderes als eine grosse, sich regelmässig wiederholende, hochkomplexe Vermittlung. Die Schweiz ist eine Gesellschaft des Kompromisses.

Manchmal schlagen Mediationen auch innenpolitisch Wellen. Die «Weltwoche» hat Sie im Zuge der Vermittlung zwischen der linken kolumbianischen Guerilla Farc und dem kolumbischen Staat mal als «weit links politisierender Grünen-Vertreter» beschrieben.
(lacht) Zu meiner eigenen Über­raschung.

Aber Sie sind Mitglied der ­Grünen!
Ja. Wissen Sie, ich habe Politikwissenschaften studiert. Und ich fand immer, dass etwas fehlt, wenn ich es nicht selbst mal probiere. Ich war bis 2007 acht Jahre Mitglied des Lausanner Stadtparlaments. Aber ganz ehrlich: Die Waadtländer ­Grünen sind sehr weit weg von ­einer ­radikalen Linken.

Ihr Vater, Arnold Hottinger, war jahrzehntelang NZZ-Korrespondent im Nahen Osten und ein berühmter Journalist. Welche Rolle spielte er in Ihrer Berufswahl?
Er beeinflusste mich. Auch die Art und Weise, wie ich das Leben sehe. Mein Vater war sehr weltoffen, und er wusste sehr viel. Er hatte diese natürliche Neugierde. Und er war ein guter Zuhörer. Er starb vor zwei Monaten, und wir vermissen ihn ­immer noch sehr.

Was treibt Sie bis heute an?
Der fundamentale Glaube, dass wir keinen anderen Weg haben, als zu ­verhandeln. Aber es gibt auch eine Müdigkeit, die bei jedem Verhandler irgendwann kommt. Me­diatoren laufen auf Messers Schneide. Irgendwann spürt man die Gefahr nicht mehr. Dann sucht man Lösungen, die mehr Schaden anrichten als Gutes tun.

Den Punkt haben Sie aber noch nicht erreicht?
Nein, ich bin weit davon entfernt. Das denke ich zumindest. 

Darum vermittelt die Schweiz in Konflikten

Die sogenannte Mediation zwischen Konflikt- und Kriegsparteien gehört seit Jahrzehnten zu den Pfeilern der Schweizer Aussenpolitik – und ist als Friedensförderung sogar in der Verfassung festgeschrieben. In den letzten Jahren vermittelte die Schweiz in über 20 Konflikten, u. a. den Friedensvertrag zwischen den Farc-Rebellen und dem kolumbianischen Staat, einen Gefangenenaustausch zwischen den USA und Iran oder die Mediation zwischen Georgien und Russland. Zurzeit investiert die Schweiz in eine Professionalisierung der Ausbildung und ­beteiligt sich seit 2017 an einem Masterstudium in Friedensmediation an der ETH Zürich.

Die sogenannte Mediation zwischen Konflikt- und Kriegsparteien gehört seit Jahrzehnten zu den Pfeilern der Schweizer Aussenpolitik – und ist als Friedensförderung sogar in der Verfassung festgeschrieben. In den letzten Jahren vermittelte die Schweiz in über 20 Konflikten, u. a. den Friedensvertrag zwischen den Farc-Rebellen und dem kolumbianischen Staat, einen Gefangenenaustausch zwischen den USA und Iran oder die Mediation zwischen Georgien und Russland. Zurzeit investiert die Schweiz in eine Professionalisierung der Ausbildung und ­beteiligt sich seit 2017 an einem Masterstudium in Friedensmediation an der ETH Zürich.

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