Zwei Jahre ist es her, dass der langjährige Besitzer des Kiosks Sonnegg ein handgeschriebenes Schild raushängte: «Kiosk zu verkaufen». Kurz darauf liess er die Rollläden runter. Als sie wieder hochgezogen werden, steht zwischen Schokoriegeln und Glückslosen eine Frau. Viele strahlen, wenn sie die Frau vom Kiosk sehen. Sie wiederum umarmt ihre Kundschaft. Irgendetwas scheint besonders zu sein an diesem Kiosk im Zürcher Kreis 6. Aber was?
Morgens kurz nach acht Uhr fegt Geneviève den Vorplatz ihres Kiosks. Sie räumt die Kühlschränke raus, zieht den Rollladen hoch. 34 Jahre alt ist sie, trägt eine Mütze gegen die Kälte. Geneviève hat das Gymi abgebrochen, in der Gastro gearbeitet, irgendwann beschlossen, seriöser zu werden – was heisst: tagsüber zu arbeiten. Sie bekam eine Stelle als Projektassistentin, stieg die Karriereleiter hoch, verdiente gutes Geld.
«Mich schockte, dass ich so austauschbar bin»
Genevièves Vater war krank. «Es war eine lange Leidenszeit.» Einen Monat nach seinem Tod erhielt sie die Kündigung «wegen Rationalisierung». Acht Jahre hatte sie in der Firma gearbeitet. «Mich schockte, dass ich so austauschbar bin.» Sie dachte nach: Was hat mir dieser Job gegeben ausser einem fetten Lohn? Fragte sich: Will ich wieder einen Job, der mega bezahlt ist, aber keinen Sinn macht? Sie entschied, nicht in «dieses Hamsterrad» zurückzukehren. Dann hing da plötzlich das Schild: «Kiosk zu verkaufen». Geneviève sah darin nicht bloss einen neuen Job, sondern die Möglichkeit, ihr eigenes kleines Universum zu schaffen. Ein paar Quadratmeter, in denen die Regeln der Welt ausser Kraft gesetzt sind. Sie sagt es so: «Es gibt zu viel Gewalt und Traurigkeit auf der Welt. Ich bin überzeugt, dass es nur eine Antwort darauf gibt: Liebe, bunte Farben und Musik!» Im Kiosk hat sie die Plattform gefunden, um ihre Botschaft zu verbreiten.
Geneviève ordnet die Energydrinks auf dem Kühlschrank, erzählt von einem Kunden, den sie stets anlachte, wenn er kam. Sein Gesicht zeigte nie eine Regung. Sie wisse nicht, weshalb er so traurig sei, habe ihn aber einfach weiter angestrahlt. «Und eines Tages nach etwa zwei Monaten begann es in seinen Mundwinkeln zu zucken.» Mittlerweile strahle er sie auch an. «Das ist so schön!» Sie glaube daran, dass man auch in schweren Zeiten lachen darf.
Geneviève drapiert die Zeitungen, stellt die Lollis wieder ordentlich hin. Der 16-jährige Omer kommt. Er macht seine Lehre in der Nähe. «Dieser Kiosk ist ein Ort, an dem ich mich willkommen fühle, und zwar genau so, wie ich bin», sagt er. Sabine (34) erzählt, dass sie an den Kiosk kam, um Zigaretten zu kaufen, aber nicht bezahlen konnte, weil die Karte nicht funktionierte. Geneviève bot ihr an, das Geld ein anderes Mal zu bringen. «Es ist so schön, dass sie mir vertraute, obwohl sie mich nicht kannte.» Immer wieder übersetzt Geneviève für Menschen, die noch nicht lange in der Schweiz leben, die Briefe von Behörden. Auch bei Bewerbungen hilft sie. Zum Beispiel David (40), er sagt: «Ich habe nun meine Traumstelle als Sozialarbeiter.» Geneviève winkt. Wem? «Den Polizisten!» Sie bewachen das türkische Konsulat und haben nun Schichtende, erklärt sie.
Für Sarah (19) und Jasmin (20) ist es ein Abendritual, mit Geneviève zu plaudern, bevor sie ins Tram nach Hause steigen. «Das ist ein Kiosk mit Kultur und Herz», sagen sie. Stimmt. Die Graffitis an Rollladen, Tür und Zeitungskasten sind Beispiele dafür. Geneviève liebt sie – «ich bin halt ein Hip-Hop-Kind».
Wertschätzung für alle
Die Schüler aus der Umgebung nennt sie «die Kleinen». Die Jugendlichen kaufen die angesagten Energydrinks, und manche erzählen von Sorgen zu Hause und Stress in der Schule. Geneviève hört ihnen zu. Zu Beginn hätten sie auf die Strasse gespuckt und die Zigarettenstummel liegen gelassen. «Ich hatte Respekt davor, ihnen zu sagen, dass mich das stört.» Sie tat es trotzdem. «Die Kleinen reagierten positiv.» Komme es trotzdem wieder vor, sage sie: «Was haben wir abgemacht?» Ein Jugendlicher erzählte ihr kürzlich, dass er die Lehrstelle bekam und sein Chef beim Einstellungsgespräch erwähnte, dass er die Zigarette in den Abfall und nicht auf den Boden geworfen habe. «Es ist krass, wie so etwas Kleines das Leben mitprägen kann, nicht?», sagt sie.
Geneviève schätzt es, dass sie als unabhängiger Kiosk ihr Sortiment den Wünschen der Quartierbewohner anpassen kann. Dass sie die Lieblingszeitschrift der alten Frau hat und den Tabak von Schriftsteller Zoltàn (64), der sagt: «Geneviève ist zeitlich nur ein winziges Stück meines Tages. Aber ein wichtiges.» Ihr Kiosk soll ausserdem Kulturschaffenden als Plattform dienen und Platz bieten für Produkte aus dem Quartier.
Nach dem Mittag kommt die medizinische Praxisassistentin Milena (41). Jede Woche geht sie in der Nähe zu einer Psychologin und schaut dann am Kiosk vorbei. «Geni macht diesen Ort zu etwas Besonderem. Sie wertschätzt alle Menschen, egal ob Geschäftsleute, Rentner oder Menschen, die es gerade nicht so gut haben im Leben.» Es bedeutet etwas, wenn einem jemand zehn Minuten zuhört, ohne zu urteilen. «Diese Leute gehen danach heim und fühlen sich wertgeschätzt, weil sie wahrgenommen wurden.» Das sei nicht zu unterschätzen, wenn man sich im Leben gerade von allen verlassen fühle, sagt Milena.
Geneviève verteilt eine Art Glitzerstaub um ihren Kiosk. Kleine funkelnde Stäubchen, die sich auf die Mäntel der Menschen legen, sich im Haar verstecken, auf kalte Händen rieseln. Und all die Menschen, die am Kiosk damit in Berührung kommen, tragen das Glitzern mit sich, weg vom Kiosk – nach Hause, an den Arbeitsplatz.
«Meine Lösung ist, umso mehr Liebe zu verteilen»
Weinhändler Adrian von der gegenüberliegenden Strassenseite bringt Tiroler Wein. Geneviève verkauft den Wein am Kiosk. Adrian fragt, wie es ihr geht, sagt: «Es hat mir wehgetan, als der Kiosk zu war.» Es stimmt, kürzlich war der Kiosk einige Wochen geschlossen. Geneviève ging es nicht gut. Auch sonst gibt es Tage, an denen die Rollläden unten bleiben.
Lena (35), eine Freundin aus Jugendtagen, sagt, sie habe durch die Freundschaft mit Geneviève gelernt, dass man nur sich selbst, nicht das Gegenüber ändern könne. «Früher war ich wütend, wenn ich mit Geni abmachte und sie nicht kam.» Heute rechne sie einfach mit dem Schlimmsten und fokussiere sich auf die positiven Eigenschaften von Geneviève. Auch die Kundschaft des Kiosks müsse damit umgehen können, dass Geneviève nicht immer offen hat. «Wenn sie da ist, ist sie dafür voll und ganz da.» Und ist sogar ein Bankomat. Insbesondere für türkische Mitbürger, da im Konsulat nur bar bezahlt werden kann. Sie tut das, weil sie doch sehe, unter welchem Stress diese Menschen stehen. «Manche müssen eine ganze Woche freinehmen, um ein dringend benötigtes Dokument zu erhalten.»
«Es bringt doch nichts, Menschen auszustossen»
Geneviève hat neben dem Tod ihres Vaters vor zwei Jahren auch physische und psychische Gewalt erlebt. Sie verbirgt den Schmerz nicht, der in ihr ist. Sie sagt: «Meine Lösung ist, umso mehr Liebe zu verteilen.» Andere Menschen fröhlich zu machen, heile die eigenen Wunden. Nun steht die auffällig geschminkte Sama (23) am Kiosk. Sie sagt: «Manche Menschen sagen nicht einmal Hoi, Geneviève strahlt mich immer an.» Als sie weg ist, sagt Geneviève: «Samas Augen sind richtige Kunstwerke!»
Traurig macht Geneviève, wenn sich Leute beschweren, weil bei ihr am Kiosk immer wieder auch Menschen vom Rande der Gesellschaft Zeit verbringen. Das bringe doch nichts, wenn man Leute, die sich in einer schwierigen Lebensphase befinden, noch mehr aus der Gesellschaft ausstosse. «Stell dir vor, du bist voll am Ende. Wie willst du es schaffen, wieder zurück ins Leben zu finden, wenn sich andere Menschen schon an deiner blossen Anwesenheit stören?» Genevieve versteht nicht, was Menschen davon haben, wenn sie andere kleinmachen und abwerten.
Raum für Zufälle
Pesche (60) kommt mit dem Velo angefahren. Er arbeitet an einer Fachhochschule im Bereich Internationale Beziehungen, ist seit längerem im Homeoffice und verbringt seine Pause oft am Kiosk. «Bisschen den Kopf durchlüften.» Er hat Geneviève selbst gemachtes Apfelmus gebracht. Er, der vor ein paar Jahren der Liebe wegen von Bern in dieses Quartier nach Zürich zog, schätzt, dass am Kiosk so viele Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebensperspektiven zusammenkommen. «Dieser Kiosk ist ein Ort, an dem es Raum für Zufälle gibt.»
Es wird Abend. Ein gut gelauntes Paar steigt an der Haltestelle Sonneggstrasse aus dem Tram: Urs (43) und Ludmilla (42). Urs hat im Sommer auf einer Baustelle in der Nähe gearbeitet. In der Pause kam er jeweils an den Kiosk. «Er hat mir immer die Zehnernote hingestreckt, ohne mich anzuschauen», erzählt Geneviève. Urs sagt: «Einmal fragte sie mich, ob ich eine Zigarette mit ihr rauche.» So seien sie ins Gespräch und auch auf seine Zähne zu sprechen gekommen. Die waren der Grund, weshalb er ihr nicht in die Augen sah. Scham. «Ich habe panische Angst vor Spritzen, war nie beim Zahnarzt.» Die Zähne waren abgefault. Geneviève erzählte ihm von ihrem Zahnarzt und meldete ihn eines Tages an. «Die beste Entscheidung», sagt Urs. Geneviève habe ihm die Angst genommen und ihm Selbstvertrauen gegeben. Sie sei wie die grosse Schwester, die er nie hatte – obwohl sie jünger ist.
Die Moldauerin Ludmilla weint, als sie erzählen will. Geneviève kommt und umarmt sie: «Hey, was ist denn?» Sie habe hier in der Nähe gelebt, ihr Leben sei eine einzige Katastrophe gewesen, beginnt Ludmilla. Sie sei so einsam gewesen und hatte Geldsorgen. Hier an diesem Kiosk habe sie alles bekommen, was ihr fehlte: «Wärme, Liebe und den besten Kaffee der Stadt.» Das Wort Kiosk habe für sie eine ganz neue Bedeutung bekommen. Immer wenn sie nicht mehr konnte, habe Geneviève ihr gesagt: «Hey Baby, du schaffst das. Du bist stark genug.» Mit Genevièves Unterstützung fand sie wieder Lebensmut – und auch einen Job. Seit zwei Monaten arbeitet Ludmilla am Flughafen in einer Küche. «Es ist mein Paradies!» Sie sei so glücklich, ihr Kopf nun so ruhig.
Und weil Ludmilla einsam war und Urs allein wohnte, verteilte Geneviève Glitzerstaub. Seit acht Monaten lebt Ludmilla nun bei Urs. Sie sind Freunde, kein Liebespaar. «Wir haben es so gut zusammen», sagt Ludmilla. Urs nickt. «Hundert Prozent!» Urs lacht. Und zwar so, dass seine neuen Zähne zu sehen sind.
Und dann wird sichtbar, dass Genevièves Glitzerstaub von den Menschen, deren Leben sie berührte, an Menschen weitergetragen wird, denen sie selbst noch nie begegnet ist. Urs sagt: «Ludmilla, du bist so stark geworden in den letzten Monaten.» Ludmilla schaut ihn an: «Dank dir und Geneviève. Ich versuche, diese Wärme, die ich von euch bekommen habe, an meine Arbeitskolleginnen weiterzugeben.» Geneviève schaut beide an und sagt: «Ihr seid meine beiden kleinen Ninjas!»