Gabor Hirsch lebt nicht mehr. An seinem Grab stand am Dienstag auch die 21-jährige Tina. Sie hat den Holocaust nicht erlebt, aber Hirsch kennengelernt. Tina sagte:
«Die ersten drei Worte, die mir in den Sinn kommen, wenn ich an Gabor denke, sind: berührend, bewirkend und inspirierend. Aus dem Grund, dass Gabors Kindheit und Jugend geprägt waren von Qual und Schmerz und er es trotz allem geschafft hat aufzustehen und sich nichts wegnehmen liess. (...) Ich hatte die Ehre, meine Maturarbeit über seine Geschichte zu schreiben. (...) Ich bin so dankbar, dass ich Gabor kennenlernen durfte, und werde ihn immer als meine grösste Inspiration dafür sehen, dass er sein Leben lang dafür kämpfte, dass unserer und den kommenden Generationen nie wieder widerfahren darf, was er erleben musste, aber gleichzeitig auch, dass es nie in Vergessenheit geraten darf. Gabor, du warst und bist eine Inspiration für mich und viele andere.»
Gabor Hirsch, vor 90 Jahren in Ungarn geboren, war Ehemann und Vater zweier Söhne. Seine Mutter sah er als 14-jähriger Bub zum letzten Mal durch einen Zaun im Konzentrationslager Auschwitz. Die Mutter schenkte dem Sohn ihre Brotration.
Seinen Söhnen hat Hirsch nie gesagt, dass sie den Teller leer essen sollen, denn er wäre froh gewesen, überhaupt etwas zu essen gehabt zu haben. Niemals hat Hirsch so etwas gesagt. Er, der 27 Kilo wog, als er aus Auschwitz befreit wurde. 60 Jahre lang schwieg Hirsch über das, was er erleben musste. Vor 30 Jahren reiste er mit seinem älteren Sohn Mathias nach Polen, um das Konzentrationslager Auschwitz zu besuchen. Und begann zu erzählen.
Er, der introvertiert war, konnte nicht mehr schweigen. Nicht weil er von sich erzählen wollte. Er wollte, dass nicht vergessen wird, wohin Ausgrenzung und Schweigen bei Unrecht führen können. Akribisch hat Hirsch geforscht, Beweise gesammelt, sein Gedächtnis mit den Akten abgeglichen. Wochenlang sass er in Archiven – auch in Auschwitz. Er sprach vor vielen Schulklassen. Zuletzt im März in Zürich. Er traf Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga, nahm sich ebenso Zeit für die Gymnasiastin Tina.
Jede Nummer ein Mensch
Hirsch hielt es aus, wenn seinem Gegenüber die Worte fehlten. Er wusste, dass es keine angemessenen Worte gibt. Er aber sprach, wenn jemand fragte. Er suchte die Worte. Fand Halt in Fakten. In endlosen Transportlisten, Todeslisten. Das Grauen schwarz auf weiss. Diese unzähligen Nummern. Jede Nummer ein Name. Jeder Name ein Mensch. Hinter einer Nummer der Name seiner Mutter. Listen, Namen, Nummern. Dieser geplante, festgehaltene Massenmord von Menschen, umgesetzt von Menschen. Hirsch mahnte, weil er wusste, dass das, was geschehen war, wieder geschehen kann.
Hirsch hat über das Grauen gesprochen. Und zwar nicht für sich. Er sprach für die, die nicht mehr konnten, für Überlebende, denen das Erzählen zu schmerzhaft war, und für alle Generationen, die noch kommen. Bei einem Gespräch im Januar in seinem Zuhause in Esslingen ZH sagte Gabor Hirsch: «Ich möchte die Leute warnen, damit sie sich schützen vor jeder Form von Indoktrination. Und jede Art von Diskriminierung, Rassismus, Antisemitismus und andere Formen von Ausgrenzung bekämpfen.»
Kurz danach reiste er mit seinen beiden Söhnen zum letzten Mal nach Auschwitz. SonntagsBlick durfte ihn begleiten. Hirsch sagte kaum etwas. Nur beim Mittagessen redete er ein paar Worte. Ganz Alltägliches, verpackt in seinen feinen Humor – mitten in Auschwitz. Hirsch nahm diesem schrecklichen Ort mit seiner Anwesenheit etwas von dessen Schwere. Er, der Überlebende.
Sein Glück
Gabor Hirsch hat dem Leben getrotzt. 1956 floh er aus Ungarn, als seine Landsleute von Nazis zu Kommunisten wurden. Er habe raus gewollt, ein Leben führen wollen, sein Leben. So vieles, was selbstverständlich sein sollte, war es im Leben von Gabor Hirsch nicht. Hirsch hat gekämpft. Dem Leben sein Quäntchen Glück abgerungen. Er bezeichnete sich als glücklichen Mann. Weil er überlebt hat. Aber nicht nur. Sein Sohn Mathias sagte diese Woche während eines Telefongesprächs: «In der Schweiz fand mein Vater Ruhe. Er konnte studieren, gründete eine Familie.» Hirsch wurde Ingenieur. Eine Führungsfunktion habe er nie gewollt. «Er wollte nicht über andere Menschen bestimmen.» Vermisst hat er zeitlebens seine Mutter. Sie wurde von den Nazis getötet. «Wir können nur hoffen, dass er jetzt bei ihr ist», sagte Mathias.