Kaum ein Goalie hat in den letzten Jahren derart polarisiert wie Jens Lehmann (40). Weltklasse oder nur eine grosse Klappe? Am Samstag spielte der 61-fache deutsche Internationale sein letztes Bundesliga-Spiel für den VfB Stuttgart.
Jetzt folgt bereits seine Autobiographie. «Der Wahnsinn liegt auf dem Platz» heisst sie. Die Bild-Zeitung hat bereits Auszüge daraus veröffentlicht. Lehmann nimmt auch hier kein Blatt vor den Mund. Ob Oliver Kahn, Robert Enke oder seine Pinkel-Pause in der Champions League, zu allem hat der Mann aus dem Ruhrpott etwas zu sagen.
Zum Selbstmord von Hannover-Goalie Robert Enke (†32) am 10. November des letzten Jahres schockiert Lehmann mit der Frage: «Warum bringt sich so jemand um? Und dann auch noch an meinem 40. Geburtstag – hatte das Ganze am Ende etwas mit mir zu tun?» Bescheidenheit war halt noch nie Lehmanns grösste Stärke. Fast erleichtert fährt Lehmann weiter: «Doch dann gab Teresa Enke eine bewegende Pressekonferenz, auf der sie davon erzählte, wie lange Robert schon an schweren Depressionen gelitten habe.»
Auch zum berühmten Zettel von DFB-Goalie-Trainer Andy Köpke, der Deutschland im WM-Viertelfinal 2006 den Sieg im Penaltyschiessen gegen Argentinien brachte, stellt Lehmann klar: «Viel hat er mir ja nicht gebracht.» Beim gehaltenen Penalty von Ayala sei er aus Intuition in die andere Ecke gesprungen als auf dem Zettel stand. Überhaupt habe er kaum etwas lesen können. «Andy, warum schreibst du mit Bleistift? Das kann doch kein Mensch lesen», sei ihm durch den Kopf gegangen. Und Cambiasso sei gar nicht drauf gewesen. Lehmann hält trotzdem – Deutschland steht im Halbfinal.
Eine klare Meinung hat Jens Lehmann über Oliver Kahn. Für ihn ist logisch, warum er 2006 vor seinem grossen Rivalen aus München zum Nummer-1-Goalie bestimmt wurde. «Es war ein Vergleich auf hohem Niveau. Augenscheinlich kann ich noch besser mit Druck umgehen als Oliver Kahn.» Er habe sich nach seinem Wechsel nach England noch einmal weiter entwickelt. «Ich bin der komplettere Torwart, und irgendwann musste das einfach mal zum Tragen kommen.»
Immerhin: Es gibt auch Lob für Kahn. Überraschend sei er vpr dem Penaltyschiessen gegen Argentinien zu ihm gekommen, schreibt Lehmann. «Ich wünsch dir viel Glück», habe er gesagt. «Das ist jetzt dein Ding, du machst das.» Eine tolle Geste, gibt Lehmann zu.
Wirklich peinlich seien ihm in seiner Karriere nur wenige Dinge gewesen. Lehmann erzählt auch lustige Anekdoten. Am 16. Oktober 1993 wird er zur Pause ausgewechselt. Sein Schalke liegt gegen Leverkusen 0:3 hinten. Lehmann verlässt das Stadion und will per Zug nach Hause. Am Bahnhof merkt er, dass er kein Geld in der Tasche hat. Ein Fan erkennt ihn und fragt: «Was machen Sie denn hier?» Lehmann: «Ausgewechselt.» – «Ach Mensch, das ist bitter.» – «Können Sie mir vielleicht fünf Mark für eine Fahrkarte leihen?» – «Ja, hier nehmen Sie.» Und Lehmann fährt mit dem geborgten Geld nach Essen.
Schliesslich klärt Lehmann auch noch über die «Pipi-Pause» im letzten Dezember gegen Unirea Urziceni auf. Vor 40 000 Fans im Stadion und Millionen am Fernseher verschwindet er hinter einer Werbebande und pinkelt. So sieht es zumindest aus. Doch Lehmann wehrt sich in seinem Buch: «Mein Tiefschutz geriet irgendwie in Unordnung, also hockte ich mich hin und brachte alles in Ordnung.»
Seine Fussball-Karriere hat Jens Lehmann also an den Nagel gehängt. Aus der Öffentlichkeit zurückziehen mag er sich deswegen nicht. Sein Buch beweist das.