Das Drama im Mittelmeer
Wer hilft diesen Kindern?

Bei der gefährlichen Flucht übers Mittelmeer sind Tausende Kinder allein unterwegs. Die Menschen von Lampedusa wollen ihr Leid lindern.
Publiziert: 26.04.2015 um 13:47 Uhr
|
Aktualisiert: 28.09.2018 um 21:33 Uhr
1/13
Der Bub wurde von der italienischen Küstengarde gerettet.
Foto: Dukas, Getty Images, Reuters, Keystone
Von Myrte Müller

Veronica Policardi (33) wartet auf die Kinder, die aus der Hölle kommen. Jedes Schiff, das Lampedusa anläuft, durchsucht die Erzieherin nach den Kleinsten, den Schutzbedürftigsten, nach Babys, Kindern, Teenagern, deren Augen unvorstellbare Dinge gesehen haben: rohe Gewalt, Menschen, die verdursten, Menschen, die ertrinken. Und die nach dramatischen Tagen, Wochen, Monaten in Italien gestrandet sind. Viele von ihnen ganz allein.

«Einige sind in den Wirren der Flucht von ihren Familien getrennt worden. Manche haben ihre Eltern auf dem Meer verloren», sagt Policardi, «doch die meisten sind bereits mutterseelenallein geflüchtet.»

Die neuesten Zahlen des Uno-Flüchtlingshilfswerks UNHCR stützen ihre Aussage. Letztes Jahr erreichten rund 170 000 Flüchtlinge Italien, darunter 26 000 Kinder. Jedes zweite war ohne Angehörige unterwegs. Letzten Monat kamen wieder 902 Minderjährige übers Meer nach Europa.

«Wir dürfen sie doch nicht einfach allein lassen», sagt die Sizilianerin, die sich mit 1500 Familien in ganz Italien dem Hilfsprojekt «Bambino Alto Mare» (Kind auf hoher See) angeschlossen hat. Sie wollen dem Elend nicht untätig zuschauen und den traumatisierten Kleinen ein Zuhause bieten. Eine neue Familie.

Auch letzten Sonntag eilt Veronica Policardi an den Quai. Es ist Mitternacht, als das Rettungsschiff einläuft, an Bord 89 erschöpfte Menschen. Die Helferin nimmt einem Afrikaner einen Buben ab. Der Zweijährige schaut sie mit grossen Augen an, fragt verängstigt «Mama, Mama?»

Als Veronica von Samuels Geschichte hört, bricht es ihr schier das Herz: Der kleine Eritreer befand sich mit seiner Mutter im libyschen Camp von Al Zuwarah. Sie warteten auf die Überfahrt nach Italien, als eine Gasflasche explodierte. Sechs Menschen starben. Die Libyer warfen die Schwerverletzten in ein Schlauchboot, unter ihnen Samuels Mama. Eine Frau starb unterwegs. Irgendwann wurde das Boot von einem Rettungsschiff entdeckt. Samuels Mutter und weitere Brandopfer werden noch am Sonntag mit Helikoptern von Lampedusa ins Spital nach Palermo geflogen, liegen dort auf der Intensivstation. Der kleine Bub bleibt zurück.

«Wir haben alle Hebel in Bewegung gesetzt», sagt Veronica, «wollten ihn vorübergehend in eine Familie geben, damit er ein wenig Geborgenheit bekommt.» Doch der Amtsweg ist zu lang.

Samuel muss im Aufnahmelager bleiben, nach fünf Tagen wird er in ein Zentrum nach Palermo gebracht.

Policardi, die anderen Helfer von «Bambino Alto Mare» und viele Familien auf Lampedusa kämpfen für das Wohl von Kindern wie Samuel – oft vergebens. Bartolomeo Maggiore (51), genannt «Lillo», öffnete Herz und Haus schon vor Jahren. «Wir haben Hunderte Kinder vorübergehend aufgenommen, ihnen Essen, Schuhe, Kleidung gegeben. Vor allem aber Vertrauen geschenkt, ein wenig Zärtlichkeit.»  Nicht selten verzweifelt der zweifache Vater.

«Ich griff einen Zehnjährigen Jungen auf der Strasse auf. Er war mager, hatte einen schlimm entzündeten Hals», erzählt Lillo.

«Barakat hiess der kleine Eritreer. Die Eltern hatten ihn losgeschickt, damit die Militärdiktatur in seiner Heimat ihn nicht zum Kindersol­daten macht. Barakat erzählte Lillo, dass er sich zu Fuss durch die Wüste Sahara schleppte, bevor er in Libyen ein Boot bestieg.

«Leider durfte Barakat nicht ganz bei uns wohnen, er musste im Zentrum übernachten. Tagsüber war er bei uns. Er wollte hier bleiben, hier zur Schule gehen.» Lillo kämpft mit den Tränen. «Er nannte uns Mama und Papa.»

Der Verwaltungsangestellte beantragt die Pflegschaft bei der Gemeinde von Lampedusa. Doch ehe er Bescheid bekommt, wird Barakat von den Behörden nach Catania gebracht. «Man hat uns erzählt, dass er sich mit Händen und Füssen gewehrt habe», sagt Bartolomeo Maggiore, «wie er immer nach Papa Lillo rief.» Aus Catania ist Barakat offenbar ausgebüxt, irgendwann wird er in Mailand gesehen. Dann verliert sich seine Spur.

Auch Abel (17) und Meron (16) haben sich allein auf den Weg gemacht. In Eritrea Nachbarn, desertierten sie gemeinsam aus der Armee. Drei Tage durch die Sahara. Dann Libyen. Am Ende Lampedusa. Abel hat einen Onkel in Israel. Der schickte ihm 4000 US-Dollar für die Flucht. Merons Bruder lebt in Holland. Bald wollen die beiden zu ihren Verwandten weiterreisen.

Am Touristenstrand von Lampedusa können sie neue Kraft schöpfen. Für einen Moment ausgelassen sein. Dann geht die gefährliche Reise ins Ungewisse weiter.

Manche Geschichten gehen aber auch gut aus auf der Insel der Flüchtlinge. Sogar im Haus von Papa Lillo. Der Mann aus Lampedusa bekommt 2014 einen Brief vom Gericht. Er darf einen Jungen aufnehmen. Seydou (16) heisst der Teenager aus dem Senegal, der nach kurzer Zeit perfekt Italienisch spricht. Er geht zur Schule. Darf bleiben. «Ich habe zwei Töchter», so Maggiore. «Und jetzt habe ich auch noch einen Sohn.»

Auch Veronica Policardi ist wieder bereit. Um keines der Kinder zu verpassen, das nach dem Horror-Trip alleine das gelobte Europa erreicht hat.

Fehler gefunden? Jetzt melden
Was sagst du dazu?