Eigentlich sollten sie sich längst nicht mehr in der Schweiz aufhalten. Das untermauern zumindest die Entscheide des Staatssekretariats für Migration (SEM) und des Bundesverwaltungsgerichts. Als das Freihandelsabkommen zwischen der Schweiz und China im Jahr 2014 in Kraft trat, kam es zu einer Praxisänderung bei den Schweizer Behörden.
«Die Beweislast wurde vom Bundesverwaltungsgericht umgekehrt», erklärt Chompel Balok, Stadtparlamentarier und Vorstandsmitglied der SP der Stadt St. Gallen, im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Die Flüchtlinge müssten beweisen, dass sie in Tibet aufgewachsen sind. Seither werde jedes zweite Asylgesuch von Tibeterinnen und Tibetern abgelehnt.
In der Schweiz gibt es rund 300 Tibeterinnen und Tibeter mit einem negativen Asylentscheid. Sie lebten in permanenter Unsicherheit und am Rande der Gesellschaft, sagt Balok. Wegen der rechtlichen Situation könnten sie von der Polizei jederzeit aufgegriffen und gebüsst werden. Darunter seien auch Familien, deren Kinder hier die Schule besuchten. Es bleibt ihnen nur die Nothilfe.
Auch im Kanton St. Gallen gibt es Tibeterinnen und Tibeter, die von von acht Franken im Tag leben müssen. Gut einem Dutzend von ihnen wurde in einer «humanitären Aktion» des St. Galler Polizeidirektors Fredy Fässler (SP) Aufenthaltsbewilligungen als Härtefälle in Aussicht gestellt.
Drei dieser Tibeter waren bereit, gegenüber dem Kanton und dem SEM ihre Identität offenzulegen. Dazu legten sie den Behörden ein «Green Book» - ein passähnliches Dokument, ausgestellt von tibetischen Exilbehörden in Indien - sowie ein Registrierungsdokument aus Indien vor. Das SEM überprüfte diese Papiere und stellte den Betroffenen auf Antrag des St. Galler Migrationsamts eine Aufenthaltsbewilligung für ein Jahr aus.
Tibet war von 1912 bis 1951 de facto ein unabhängiger Staat. Nachdem 1959 ein Volksaufstand der Tibeter gegen die chinesische Besetzung scheiterte, flohen der Dalai Lama und tausende seiner Landsleute ins Ausland - die meisten von ihnen ins benachbarte Indien, nach Dharamsala, wo das geistige Oberhaupt der Tibeter im Exil lebt.
Die Schweiz nahm ab 1961 als erste Nation ausserhalb Asiens tibetische Flüchtlinge auf. Sie wurden vom Schweizerischen Roten Kreuz, vom Verein Tibeter Heimstätten und von vielen freiwilligen Helferinnen und Helfern betreut und an verschiedenen Orten in der Deutschschweiz untergebracht.
Die Eltern von Chompel Balok reisten 1973 in die Schweiz ein. «Meine Mutter war schwanger, verschwieg aber, dass sie bereits im neunten Monat war, weil sie Angst hatte, nicht auf den Flieger zu kommen», sagt Balok. Während des Fluges kam seine Schwester Namdu - auf Deutsch Himmelsdrache - zur Welt. Eine St. Galler Kinderärztin war mit an Bord und leistete Geburtshilfe. «Der Pilot der Swissair-Maschine wurde Götti meiner Schwester», erzählt der 47-Jährige.
Mehrere tausend Tibeterinnen und Tibeter seien damals mit offenen Armen in der Schweiz empfangen worden. Den Mythos von den Gemeinsamkeiten der beiden «Bergvölkli» findet Balok etwas konstruiert. Es habe damals ein Arbeitskräftemangel geherrscht, unter anderem in den Fabriken der Ostschweizer Textilindustrie. Auch seine Eltern arbeiteten als Hilfsarbeiter in verschiedenen Textilbetrieben im Fürstenland und im Toggenburg.
Die meisten der inzwischen rund 8000 Tibeterinnen und Tibeter hätten sich in der Schweiz gut integriert und sie seien Teil der Dorfgemeinschaften. «Sie haben sich hier eine Existenz aufgebaut, nehmen aktiv am sozialen Leben teil und engagieren sich in Vereinen», sagt er.
Anfangs sei sein Umgang mit seiner Herkunft distanziert und kritisch gewesen. «Die Welt draussen hat mich mehr interessiert», so Balok. Seine besten Kollegen seien immer Schweizer gewesen. Es habe anders gerochen in den Schweizer Stuben - nach Kaffee und Kuchen, auch die Diskussionen am Familientisch seiner Freunde hätten ihn sehr interessiert.
Er habe sich erst im tibetischen Jugendverein aktiv und politisch eingebracht. Nach dem Studium der Wirtschaftswissenschaften arbeitete er eineinhalb Jahre in Berlin als politischer Referent für die deutsche Zweigstelle der Organisation «International Campaign for Tibet», deren Mitgründer Richard Gere war.
In diese Zeit fielen auch die weltweiten Proteste gegen die olympischen Spiele in Peking. Exil-Tibeter hatten 2008 wegen der schlechten Menschenrechtssituation und der Unterdrückung von Mönchen und anderen Landsleuten zum Boykott aufgerufen.
Seit 2018 politisiert Balok für die SP. Im vergangenen Jahr wurde er auf Anhieb ins Stadtparlament gewählt. Er wolle, dass es den Menschen in der Stadt St. Gallen besser gehe. Vor allem jenen, die benachteiligt seien. Dazu zählten auch die Tibeterinnen und Tibeter ohne Aufenthaltsbewilligung.
Bei der humanitären Aktion hat er als Vermittler und Übersetzer fungierte. Er sei zuversichtlich, dass der Kanton auch noch in den restlichen Fällen Hand biete für eine Lösung. Dieser Weg passe wegen der individuellen Lebens- und Fluchtgeschichten aber nicht für alle Tibeter.
Es brauche ein Entgegenkommen der kantonalen Behörden sowie des SEM, um eine langfristige Perspektive für die tibetischen Sans-Papiers in der Schweiz zu schaffen. Mit dem steigenden Einfluss Chinas in der Welt seien sie in Ländern wie Nepal oder Indien als Flüchtlinge deutlich schlechter geschützt als früher. In China drohe ihnen die politische Verfolgung. «Diese Menschen trauen niemandem und fürchten sich auch vor der zunehmenden Überwachung durch China in der Schweiz.»
Ohne gültige Papiere könnten sie nicht mehr ausreisen, selbst wenn sie dies wollten. Sie seien abgehängt vom sozialen Leben. «Sie dürfen nicht arbeiten und auch die Heirat wird ihnen verwehrt.» Es gebe tibetische Sans-Papiers, die seit Jahren von Ort zu Ort tingelten und Unterschlupf bei Bekannten oder Freunden suchten. Ein Zustand, den der zweifache Vater nicht hinnehmen will.
(SDA)