Nobel-Altersheim prellt seine behinderte Mitarbeiterin
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100 Franken Monatslohn:Nobel-Altersheim prellt seine behinderte Mitarbeiterin

Daniela Rothenberger (62) schuftet für Mini-Lohn
Nobel-Altersheim prellt seine behinderte Mitarbeiterin

Das Altersheim in Chur GR beschäftigt seit 21 Jahren eine Angestellte mit Behinderung. Dafür kassiert es monatlich Beiträge vom Sozialamt. Der Mitarbeiterin bezahlt es nach einer Lohnkürzung nur 100 Franken – und macht jetzt so Gewinn. Die Behörden schauen weg.
Publiziert: 24.02.2020 um 23:38 Uhr
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Aktualisiert: 12.11.2020 um 17:54 Uhr
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Daniela Rothenberger (62) arbeitet seit über 21 Jahren in der Villa Sarona.
Foto: Thomas Meier
Helena Schmid

Die Kantine des Altersheims Villa Sarona in Chur GR ist Daniela Rothenbergers (62) Revier. An drei Nachmittagen in der Woche arbeitet sie hier beim Hausdienst. Die Seniorin hat eine geistige Beeinträchtigung. Doch ihre Aufgaben kennt sie genau: auftischen, abräumen, Geschirr spülen, Boden fegen. Knochenarbeit. Für die sie gerade mal 100 Franken Monatslohn kassiert!

BLICK trifft Rothenberger in ihrer Wohnung in der Bündner Hauptstadt. Trotz ihrer Behinderung lebt sie alleine, schmeisst den Haushalt selbständig. Kochen, putzen, waschen – alles kein Problem. «Ich bin nur etwas langsamer als die anderen», sagt Rothenberger.

Entschädigung an Altersheim höher als Lohn

Vor 21 Jahren nahm sie den Job in der Villa Sarona an. Damals noch für 500 Franken monatlich. Im September 2019 teilte der Arbeitgeber mit, man werde ihren Lohn auf 100 Franken kürzen. «Leistungsbedingt», heisst es. Rothenberger ist verwirrt: «Ich dachte, sie seien zufrieden mit mir.» Dennoch unterschreibt sie den Arbeitsvertrag. «Lieber wollte ich wenig verdienen als gar nichts.»

BLICK-Recherchen zeigen: Wegen des geringen Lohns schlägt Villa Sarona aus der Anstellung jetzt sogar finanziellen Gewinn. Denn das Sozialamt entschädigt private Betriebe, die Personen mit Behinderung einstellen. Der Beitrag soll den zusätzlichen Aufwand decken, den die beeinträchtigte Person generiert.

«Wir nutzen niemanden aus!»

Für Daniela Rothenberger erhält die Villa Sarona so den höchstmöglichen Betrag von 44 Franken pro Arbeitstag. In einem Monat arbeitet sie insgesamt sechs Tage. Heisst: Das Altersheim kassiert 264 Franken monatlich vom Kanton – mehr als das Doppelte dessen, was an Rothenberger ausgezahlt wird.

Die Villa Sarona gehört zur edlen Altersheimkette Tertianum. Als BLICK das Heim erstmals mit dem Fall konfrontiert, wehrt sich Sprecher Roger Zintl: «Wir nutzen niemanden aus! Im Gegenteil. Unsere Mitarbeitenden kümmern sich fürsorglich um Unterstützungsbedürftige.»

Die Anstellung habe nichts mit «Gewinnbestrebungen» zu tun. Vielmehr sei sie ein «soziales Engagement». Zintl: «Wir geben diesem Menschen eine Aufgabe, eine Struktur und das Gefühl des Gebrauchtwerdens.»

«Ist meine Arbeit so wenig wert?»

Eine Anstellung aus Solidarität also. Als würde das Altersheim nicht von Rothenbergers Arbeit profitieren. Als würde man das Geld des Kantons nicht kassieren.

Die Seniorin macht das traurig. Sie fühlt sich ausgenutzt, fragt: «Ist meine Arbeit wirklich so wenig wert?» Klar, sie lasse sich schneller ablenken als ihre Teamkameraden, könne auch schlecht Nein sagen. Aber sie gebe sich Mühe, erledige ihre Arbeit sorgfältig.

Immerhin: Auf Rothenbergers finanzielle Situation hat die Lohnreduktion von 500 auf 100 Franken kaum Einfluss. Die Seniorin bezieht eine IV-Rente. Die Differenz des Lohnes wird durch Ergänzungsleistungen zu zwei Dritteln ausgeglichen – sie erhält nun vom Staat knapp 300 Franken mehr.

Betrieb kassiert – Steuerzahler muss blechen

Nur: Weil das Altersheim sie prellt, muss diese zusätzlichen Leistungen der Steuerzahler tragen. Genau wie die 264 Franken Monatsbeiträge an das Altersheim, die er mit seinen Steuern auch schon finanziert.

Das Altersheim kassiert – auf Kosten des Bürgers. Das Sozialamt des Kantons Graubünden hat damit kein Problem. Auf Anfrage von BLICK bestätigt der zuständige Leiter Behindertenintegration, man habe Kenntnis von Rothenbergers Monatslohn.

Jedoch sehe man keinen Grund zur Intervention. Die Behindertenhilfsorganisation Pro Infirmis habe vergangenes Jahr eine Abklärung an Rothenbergers Arbeitsplatz durchgeführt – und die Reduktion gutgeheissen. Man verlasse sich auf diese Einschätzung.

Lohn sei «unerklärlicher Fehler»

Trotz mehrfacher Aufforderung und eingereichter Auskunftsvollmacht weigerte sich das Sozialamt, den Abklärungsbericht von Pro Infirmis herauszugeben. Für ein weiteres Statement waren die Behörden nicht mehr erreichbar.

Auch Pro Infirmis äusserte sich während einer gegebenen Frist von mehreren Tagen weder zum Bericht noch zum Fall allgemein.

Als BLICK nicht lockerlässt, heisst es beim Arbeitgeber Tertianum plötzlich, man habe einen «unerklärlichen Fehler» gemacht. Sprecher Zintl verspricht: «Die Geschäftsleitung wird eine Weisung erlassen, dass die ausbezahlten Löhne an IV-Bezüger die Leistung des Kantons nicht unterschreiten dürfen.»

Altersheim schaltet Kesb ein

Doch als das Tertianum realisiert, dass der Fall Rothenberger trotzdem publik wird, greift man zu härteren Methoden – und schaltet kurzerhand die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) ein! «Sie wollen, dass die Kesb abklärt, ob meine Schwester doch einen Beistand braucht», erzählt Danielas Bruder Andrea Rothenberger (57) nach einem Telefonat mit Tertianum.

Und tatsächlich: Über Nacht wurde die Seniorin am Wochenende per superprovisorischen Entscheid vorübergehend verbeiständet. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Gegen ihren Wunsch und Willen. Rothenberger war immer stolz auf ihr Recht auf Selbstbestimmung: «Ich möchte eigenständig bleiben. Wenn ich Hilfe brauche, unterstützt mich meine Familie.»

Dieses Recht wurde ihr nun genommen. Nur weil Rothenberger von ebendieser Selbstbestimmung Gebrauch machte – und sich gegen ihren Minilohn wehrte.

Job zurück, Lohn zurück, Freiheit gewonnen
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